Coco - Lebendiger als das Leben! (2017)

Die Macht des Erinnerns

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Der zwölfjährige Miguel Rivera hat einen Traum: Er will Musiker und genauso berühmt werden wie sein großes Vorbild Ernesto de la Cruz. Aber es gibt ein Problem, in seiner Familie ist Musik verboten. In einer animierten scherenschnittartigen Sequenz mit Papel-picado-Blättern werde gleich zu Beginn von Coco – Lebendiger als das Leben die Gründe dafür aufgedeckt: Einst verließ Miguels Ur-Ur-Großvater seine Frau und seine Tochter, um als Musiker Karriere zu machen. Er stellte die Musik über die Familie! Ur-Ur-Großmutter Mama Imelda hat das ihrem Mann niemals verziehen und sich resolut in ein neues Leben als Schuhmacherin gestürzt. Also wird in Miguels Familie nun sowohl das Handwerk als auch das Musikverbot von Generation zu Generation weitergegeben. Doch Miguel ist nicht bereit, seinen Traum aufzugeben und will deshalb seiner Familie beweisen, was er kann und am Dia de los Muertos, dem Tag der Toten, an einem Musikwettbewerb auf der Plaza seines Heimatortes Santa Cecilia teilnehmen. Aber durch einige Zwischenfälle landet er stattdessen im Land der Toten.

Coco – Lebendiger als das Leben spielt in einem Mexiko, in dem Armut und Gewalt nicht vorhanden sind, sondern das einer ländlichen Idylle gleicht: Hier verkaufen fröhliche Menschen auf dem Markt Gemüse, putzt Miguel nach der Schule auf der Straße Schuhe und tummeln sich an allen Ecken und Enden Mariachi. Es ist also eine mexikanisch inspirierte Fantasiewelt, in der in der Originalfassung alle englisch reden, aber immerhin von lateinamerikanischen Schauspieler_innen gesprochen werden. Die Auswahl der Sprache und die Wahl des Handlungsorts lässt Coco – Lebendiger als das Leben dann auch innerhalb der Animationswelt von Pixar herausragen: Es ist der erste Film, in dem nicht-weiße Charaktere nicht nur als Nebenrollen oder als Sidekicks zu sehen sind.

Außerdem besticht der Film mit seinem Detailreichtum. Schon in Santa Cecilia gibt es sehr viel zu entdecken, ist vieles hinreißend lebendig gestaltet. Übertroffen wird dieser Ort nur durch das Reich der Toten, in dem es vor originellen, witzigen und bunten Ideen nur so wimmelt. Auch hier zeigt sich immer wieder die mexikanische Kultur – sei es bei den Papel picado am Anfang, die Erklärung des ofrendas – eine Art Altar, auf dem die Fotos der Toten stehen – oder dass die beiden Welten durch eine Brücke aus leuchtend-orangefarbenen Ringelblumenblütenblättern verbunden sind. Diese Kultur wird Miguel und damit auch den Zuschauern erklärt, so dass sich hier auch jüngeres Publikum zurechtfinden wird. Auf der anderen Seite der Brücke im Land der Toten finden sich dann originelle Charaktere – oder besser gesagt Skelette -, die lustige Spleens und Eigenheiten, aber mitunter auch tragische Züge haben. Denn natürlich hat nicht jeder ein gutes Leben gehabt. Außerdem fliegen hier auch alebrijes – spirituelle Fantasietiere, die an die berühmten Pappmaché-Figuren erinnern. So manches erinnert an Manolo und das Buch des Lebens – aber es ist eben noch eine Spur runder, bunter und knalliger.

Es sind zwei große Themen, die der Film verfolgt: das Erinnern und die Familie. Solange sich jemand der Lebenden an einen erinnert oder die Nachfahren ein Bild am Tag der Toten aufstellen, bleiben die Skelette im Land der Toten. Erst wenn niemand mehr da ist, der ihr Andenken ehrt, gehen sie in Licht auf. Das ist ein berührendes Plädoyer für das Erinnern und das Gedenken an Vorfahren. Hier spielt die Familie eine wichtige Rolle – und zwar in erster Linie eine Familie, die auf Verwandtschaft beruht. Hinzu kommt der zentrale Konflikt, in dem sich Miguel entscheiden muss, was ihm wichtiger ist: seine Familie oder seine Selbstverwirklichung. Dieser Handlungsstrang verläuft ohne Überraschungen, vielmehr hält er sich an die typische Heldenreise, bei der der Held eine Herausforderung meistern muss und mehr oder weniger zu sich selbst findet. Ohnehin birgt die Geschichte keine unvorhersehbaren Wendungen oder Kniffe, hier haben sich andere Pixar-Werke schon durch deutlich mehr Originalität ausgezeichnet. Fast scheint es, als sei in dem Bemühen der Filmemacher Lee Unkrich und Adrian Molina, sich nicht dem Vorwurf der kulturellen Aneignung ausgesetzt zu sehen, der Plot ein wenig auf der Strecke geblieben – und man fragt sich am Ende des Films auch unweigerlich, ob diese konservative Interpretation von Familie noch zeitgemäß ist.

Bei Coco – Lebendiger als das Leben ist daher vieles gelungen, aber auch vieles mit klarer Absicht inszeniert: der Song Remember me von Kristen Anderson-Lopez und Robert Lopez, die schon an Die Eiskönigin beteiligt waren, schielt deutlich auf einen großen emotionalen Moment, bleibt aber hinter zwei Gesangseinlagen von Mama Imelda ganz ohne große Geste zurück und findet erst zum Schluss in einer anderen Version die Emotionalität, die zuvor behauptet wurde. Bereits im Trailer hat der schielende Xoloitzcuintle – ein mexikanischer Nackthund – Dante eine wichtige Rolle und er ist sehr auf Unterhaltung, Merchandising und comic relief angelegt, dabei wäre noch mehr Slapstick-Witz gar nicht nötig gewesen. Wenigstens zeigt sich hier am Ende noch eine schöne Wandlung. Pixar ist es oft gelungen, mit seinen Werken gleichermaßen Erwachsene wie Kinder anzusprechen – erinnert sei nur an den fabelhaften Alles steht Kopf oder Toy Story 3. Bei Coco – Lebendiger als das Leben ist indes zu vermuten, dass der Film bei einem jüngeren Publikum deutlich besser ankommt. Denn gerade für erwachsene Zuschauer ist dann vieles zu glatt, zu sehr auf das Ziel hin inszeniert, zu gefallen und alles richtig zu machen, so dass das große Herz anderer Produktionen bisweilen fehlt.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/coco