Radiance (2017)

Der Blinde und die Sehende

Die japanische Regisseurin Naomi Kawase gehört unbestritten zu den Lieblingen des Festivals von Cannes. Seit 1997 ihr Film Moe no suzaku in der Parallelsektion Quinzaine des Réalisateurs zu sehen war, ist sie regelmäßiger Gast des Festivals (zuletzt 2014 mit Still the Water und 2015 mit Kirschblüten und rote Bohnen). Daher verwundert es kaum, dass auch ihr neuestes Werk Radiance (Originaltitel: Hikari) einen der exklusiven Plätze im Wettbewerb an der Croisette einnehmen konnte. Und wie beide Vorgänger wird auch Naomi Kawases neues Werk in den deutschen Kinos starten.

Im Zentrum des Films steht die junge Misako, die sich als Verfasserin von Audiodeskriptionen für Blinde und Sehgeschädigte ihren Lebensunterhalt verdient. Um Feedback für ihre Arbeit zu bekommen, trifft sie sich regelmäßig mit Betroffenen, um deren Meinung einzuholen und nachzuforschen, welche Bilder ihre Worte im Kopf anderer Menschen auslösen. Bei einer dieser Sitzungen fällt ihr ein Mann namens Nakamori auf, der im Gegensatz zu den meisten anderen Teilnehmern noch über einen Rest Sehkraft verfügt. Seine Einwürfe und Korrekturen sind meist rüde vorgetragen und von einer leichten Aggressivität geprägt, die die schüchterne Misako in die Defensive drängt. Und dennoch hat dieser Mann etwas an sich, das sie nicht mehr loslässt. Es beginnt eine behutsame Annäherung aneinander. Und obwohl der frühere Fotograf nach und nach komplett sein Augenlicht verliert, lernt Misako doch etwas ganz Erstaunliches von ihm: das Sehen.

Naomi Kawase ist eine Filmemacherin der leisen Töne und des sinnlichen Erlebens, bei deren Werken es fast immer um Liebe und Trauer geht, um Verluste und Sehnsüchte, oftmals in bildmächtige und manchmal auch überzeichnete Metaphern gepackt, die sie nicht selten in die Nähe des wohlfeilen Arthouse-Kitsches führen. Radiance bildet da gewiss keine Ausnahme. Immer wieder kullern Tränen die Wangen herunter, sowohl in der Geschichte selbst wie auch in dem Film-im-Film, den Misako bearbeitet und dessen reklamierte Tiefe und Bedeutsamkeit ihr so viel Mühe machen. Gleichzeitig hat man aber stets das Gefühl, dass Kawase lediglich an der Oberfläche entlangstreift und außer recht allgemein gehaltenen Sätze über Kommunikation und Verständnis kaum wirklich Substanzielles zu vermitteln hat.

Wirklich gelungen ist der Film vor allem dann, wenn er sich auf die Kraft seiner Bilder verlässt: Dem Titel entsprechend badet Kawase manche Szenen förmlich im Licht und gibt ihren Figuren so eine Wärme und Strahlkraft, die sie allein durch die Geschichte selten zugeschrieben bekommen. Warum beispielweise Misako so unterwürfig und demütig auf Nakamoris Zurechtweisungen reagiert, ist schwerlich allein mit der weitaus höflicheren und auf Respekt beruhenden Form des Umgangs in Japan zu erklären. Zudem verliert der Film unvermittelt das Interesse an einem Nebenstrang der Erzählung, der doch am Anfang eingeführt und für Misako von Bedeutung zu sein scheint: Ihre eigene, zunehmend verwirrte Mutter und das innige Verhältnis zu ihrem bereits verstorbenen Vater spielen bis zu einer recht unmotivierten Szene am Schluss die ganze Zeit über keine Rolle mehr. Kein Wunder also, dass der Seitenstrang des Plots wie ein etwas abgegriffener Taschenspielertrick wirkt, um zur rechten Zeit zuverlässig das gewünschte Maß an Emotion zu triggern. Überzeugend ist dies allerdings nicht, passt aber zur bisweilen recht rührseligen und dann wieder wohltuend meditativen Stimmung, die den Film beherrscht.

Radiance ist wie eine cineastische Beruhigungspille in unruhigen Zeiten und hat als solche sicherlich seinen Platz in den Programmkinos verdient. An die bewegende Ruhe und Emotionalität von Still the Water kommt Kawases neues Werk aber nicht heran.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/hikari