Hungerjahre – in einem reichen Land

Eine lebensgefährliche Pubertät im Nachkriegsdeutschland

Eine Filmkritik von Marie Anderson

"Ich war schon dreißig Jahre alt, da merkte ich, dass die Vergangenheit mich nicht frei gibt. Ich lebte mit einem versteinerten Herzen, das immer noch dreizehn Jahre alt war, und ich zwang mich, mich zu erinnern." Diese lange verschütteten Erinnerungen der Filmemacherin Jutta Brückner, angekündigt durch eine unsichtbare Ich-Erzählerin zu Beginn des Films, visualisieren sich so drastisch wie sprachgewaltig in ihrem stark autobiographisch geprägten Drama Hungerjahre – in einem reichen Land. Beim Internationalen Filmfestival in Rotterdam im Februar 1980 uraufgeführt, anschließend im Rahmen der Berlinale auf dem Internationalen Forum des Jungen Films gezeigt und dort mit dem FIPRESCI Preis ausgezeichnet, erscheint dieses beunruhigende Kleinod deutscher Filmkunst nun in digitalisierter Form auf DVD. Im umfang- wie aufschlussreichen Bonusmaterial, das PDF-Dokumente zur Entstehung sowie zu den historischen Hintergründen des Films präsentiert, ist auch der Dokumentarfilm Tue recht und scheue niemand – Das Leben der Gerda Siepebrink von 1975 enthalten, das erste eigene Filmprojekt der Regisseurin, die dreißig Jahre später mit ihrem provokanten Drama Hitlerkantate ganz besondere Aspekte des Faschismus fokussiert hat.
Sie ist die einzige Tochter aufstrebender Eltern, die im Nachkriegsdeutschland des Jahres 1953 gerade mit ihr in eine bessere Gegend ziehen: die 13jährige Ursula (Sylvia Ulrich), ein kluges Mädchen, das auf dem Gymnasium die Klassenbeste ist. Auch die verwitwete Großmutter (Heidi Joschko) gehört mit zur kleinbürgerlichen Familie, mit meistens reichlich Verständnis für ihre pubertierende Enkelin, während sich zwischen Ursula und ihrer ängstlich-adretten Mutter zunehmend Spannungen abzeichnen. Die Verbindung zum gewerkschaftspolitisch aktiven Vater gestaltet sich für den Teenager zunächst noch recht unkompliziert, leicht schwärmerisch und kräftig zugeneigt in diesem Sommer ihrer ersten Menstruation, der noch so einige radikale Veränderungen in ihrem Innen- und Außenleben mit sich bringen wird, über die Grenzen der Erträglichkeit hinaus.

Als die Schwermut der Pubertät dieses Mädchen, dieses Kind, diese junge Frau allmählich ankriecht, gibt es anfangs durchaus noch Nähe innerhalb der kleinen Familie, solange Ursula ihre Gedanken, Fragen, Zweifel und Abgründigkeiten noch mitteilt, mitteilen kann. Da liegt sie beispielsweise zwischen den Eltern im Ehebett, und es wird im Dunkeln geflüstert; offene, kritische Fragen des Teenagers finden beim Vater noch Verständnis, während die Mutter sich meist in ängstlichen Allgemeinplätzen ergeht, gefesselt an ihre zeitgemäße, oft ohnmächtige Frauenrolle, gegen deren repressive Selbstverständlichkeiten sich Ursula bereits aufzulehnen beginnt. Die Distanzen der Heranwachsenden zu ihren Eltern werden sich bald vergrößern und zu einem Abgrund auswachsen, je mehr sich Ursula so wissbegierig wie widerständig nach draußen orientiert, die Schule schleifen lässt, sich herumtreibt, erste Erfahrungen mit jungen Männern macht, Alkohol trinkt und schließlich in eine verzweifelt düstere Stimmung stürzt, gefährlich nah am Absturz in den Wahnsinn oder Tod ...

Da schweben stimmgewaltig inszenierte, heimliche Gedanken der Figuren über den ausdrucksstarken, kargen Schwarzweißbildern der Geschichte, die gleichermaßen Banales wie Bedeutsames aus ihren Sehnsüchten und Sentimentalitäten preisgeben und einmal mehr die Einsamkeit einer jeden unterstreichen. Diese inneren Dialoge – bei Zeiten, besonders bei Ursula, echolalisch erstarrt – transportieren wirkungsmächtig eine schaurige Poesie, die durch unbehagliche musikalische Arrangements noch betont wird. Dadurch entsteht eine dramaturgische wie narrative Dichte an Misstönen, jenseits und doch gleichzeitig innerhalb einer sprachlichen Oppulenz, die persönliche, psychologische und politische Dimensionen jener Jahre virtuos miteinander zu verknüpfen versteht. Dennoch stellt Hungerjahre – in einem reichen Land auch über seine wichtige historische Komponente hinaus ein schwindelnd präzise beobachtendes Coming-of-Age-Drama dar, mit überaus gelungener Pointierung der wilden Empfingungswelten jener Wandlung eines Kindes auf dem Weg zu seiner ganz eigenen Identität.

Kommunismus, Konsum, Feminismus, Emanzipation, Sexualität und nicht zuletzt Pubertät sind die großen, schwierigen wie epochalen Themen, mit denen sich der Film Jutta Brückners mit schwindelnder Intensität befasst. Die Filmemacherin und promovierte Politikwissenschaftlerin hat damit eine ebenso persönliche wie wagemutige und bestürzende Narration über die wohl gefährlichste, oft banalisierte und zu Unrecht unterschätzte Lebenskrise im Dasein eines Menschen visualisiert. Dass die Reflexion und Verarbeitung dieser dunklen Phase einige Jahre gedauert hat und möglicherweise einer künstlerischen Manifestation bedurfte, darauf weist der Anfang des Films hin, der sein Publikum dazu einlädt, sich auch aufrichtig den Erinnerungen der eigenen Entwicklung zu stellen.

Als stilsichere Expertin der Regie, wovon auch die großartigen Leistungen der Schauspieler_innen zeugen, und doch mit einer geradezu schockierenden Authentizität und Offenheit traut sich Jutta Brückner, von simplen Körperlichkeiten bis hin zu sensiblen und auch mal brutalen Empfindungen und Gedanken ein Spektrum an Facetten der Adoleszenz zu beleuchten, die nur allzu gern – auch heute noch – ignoriert oder tabuisiert werden. Der Hunger Ursulas nach Erfahrung und Erkenntnis sowie die gleichzeitige Scheu davor, die manchmal sogar in Abscheu ausartet, markieren hier mahnend eine Form der Ambivalenz, die das verzweifelte Recht des heranwachsenden Individuums einfordert, sich in einem ganz eigenen Tempo zwanglos und doch geschützt zu entwickeln und zu entfalten.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/hungerjahre-in-einem-reichen-land