Leave Us Alone (OmU)

Der dänische Herr der Fliegen

Eine Filmkritik von Falk Straub

Manchmal treibt der Film gar seltsame Blüten. Lasse Nielsens und Ernst Johansens Leave Us Alone ist so ein skurriles Pflänzchen. Das lose an William Goldings Roman Herr der Fliegen angelehnte Drama schaffte es 1975 bis in den Wettbewerb der Berlinale. Jetzt erscheint es in Deutschland erstmals auf DVD.
Weil ihre Betreuer streiken, nehmen fünfzehn Jugendliche zwischen zehn und 16 Jahren ihr Ferienlager einfach selbst in die Hand. Mit einem geklauten Boot setzen sie auf eine einsame Insel über, schlagen ihre Zelte auf und genießen die Freiheit. Die Mädchen bräunen sich oben ohne in der Sonne, zwei Jungs kommen sich in einer selbstgebauten Hütte näher, am Lagerfeuer erklingt die Gitarre. Doch die anfängliche Idylle ist schnell dahin, als das Essen ausgeht und das Boot aufs offene Meer treibt. Um das Zusammenleben in geordnete Bahnen zu lenken, stellt Martin (Martin Højmark) Regeln auf, an die sich der aufmüpfige Jens (Jens Wagn Rasmussen) partout nicht halten will, weshalb er sich mit drei Getreuen von der Gruppe absetzt.

Aus ihrer Inspirationsquelle machen die Brüder Lasse und Carsten Nielsen keinen Hehl. Ihr Drehbuch bedient sich ganz unverblümt an Motiven, Figurenkonstellationen und am Handlungsgerüst aus William Goldings Roman Herr der Fliegen (1954), den Peter Brook 1963 zum ersten Mal verfilmte und der im selben Jahr, in dem Leave Us Alone in die Kinos kam, durch Lupita Aquino-Kashiwahara unter dem Titel Alkitrang dugo auch auf den Philippinen eine Adaption erfuhr. Wie in der Vorlage konkurrieren in Leave Us Alone zwei Anführer um die Gunst der Gestrandeten. Und als sich Jens' abgespaltenes Grüppchen als Indianer verkleidet auf die Jagd begibt, wird schließlich auch in der skandinavischen Variante aus Kinderspielen tödlicher Ernst.

Koregisseur Lasse Nielsen, der gemeinsam mit Ernst Johansen drei Jahre nach ihrem Langfilmdebüt das wegweisende Coming-of-Age-Drama Your Are Not Alone (Originaltitel: Du er ikke alene) drehte, kam als Autodidakt zum Film. Eigentlich ist Nielsen gelernter Pädagoge. Erst 2010 ließ Nielsen einen weiteren Langfilm und bis heute drei weitere Kurzfilme folgen. Beides, den Autodidakt und den Pädagogen, merkt man Nielsen an. Ab und an legen er und Johansen ihren Laiendarstellern die Kritik an den dänischen Verhältnissen etwas zu ungelenk in den Mund. Und auch ihre Filmsprache ist in Leave Us Alone lange nicht ausgereift. Zu sehr nutzen die beiden Regisseure die Kamera nur als Aufnahmeapparat und die Montage als die Handlung ordnendes Mittel und lassen deren kreative Gestaltungsmöglichkeiten außer acht.

Wie sehr sich Nielsen aber bereits weiterentwickelt hat, zeigt ein Kurzfilm im Bonusmaterial der DVD. Der sechsminütige The More We Are Together, der die Geschichte aus Leave Us Alone bereits leicht variiert vorwegnimmt und im Zuge eines Workshops auf Schmalfilm entstanden ist, reiht die immer gleichen Einstellungsgrößen noch recht einfallslos aneinander. Davon ist Leave Us Alone bereits ein gutes Stück entfernt, auch wenn sich Nielsen und Johansen bis zum Schluss uneins scheinen, in welche Richtung ihr Jugenddrama wachsen soll. Im Vergleich zu Herr der Fliegen und seinen Adaptionen ist Leave Us Alone trotz seiner tragischen Zuspitzung deutlich beschwingter geraten. Das Titellied der dänischen Sängerin Mette, das zu Beginn des Films noch Enthusiasmus verbreitet, klingt an dessen Ende geradezu zynisch. Und dennoch haben es die Filmemacher sicherlich anders gemeint, weht doch ein kräftiger Hauch sozialen und politischen Aufbruchs und der Glaube an das Gute im Menschen durch diesen Film.

Gegen die starke Konkurrenz bei der Berlinale, zu der unter anderem Frank Beyers Jakob der Lügner, Sergei Solowjows Hundert Tage nach der Kindheit, Woody Allens Die letzte Nacht des Boris Gruschenko und Márta Mészáros' Gewinnerfilm Adoption zählten, konnte dieses zarte Pflänzchen freilich nichts ausrichten.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/leave-us-alone-omu