Bang Gang - Die Geschichte einer Jugend ohne Tabus

Der kurze Sommer der Liebe

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Etwas mehr als 20 Jahre ist es her, dass Larry Clarkes Film Kids im Jahre 1995 in der Filmwelt einschlug wie eine Bombe und heftige Kontroversen auslöste. Seitdem haben sich die Standards des Darstellbaren – gerade in Bezug auf die Sexualität bei Jugendlichen – auch durch den Siegeszug des Internets verschoben. Und dennoch drängt sich bei Filmen mit ähnlicher Thematik – und dazu zählt sicherlich auch Eva Hussons Debüt Bang Gang - Die Geschichte einer Jugend ohne Tabus – der Vergleich mit Clarkes 'Skandalfilm' förmlich auf, ohne freilich dessen provokative Kraft zu besitzen, wie es zumindest der Titel intendieren könnte.
Es ist der Beginn eines Sommers der Liebe und des größten Skandals, den eine Schule im Süden Frankreichs jemals gesehen hat. Eines Sommers, in dem fünf Jugendliche und ihre Freunde zumindest für einen kurzen Moment eine Ahnung von der Freiheit bekommen, die sich ihnen an der Schwelle zum Erwachsenendasein eröffnet. Und vielleicht ist es ja auch nur dieser eine Moment, diese kurze Zeitspanne zwischen Nicht-mehr-Kind und Noch-nicht-Erwachsener, in dem wirklich alles möglich ist. Weil man vorher noch nicht die Reife und den Mut dazu besitzt und nachher das Leben nach festeren Bahnen und Bindungen verlangt.

Dass der Sommer, in dem die Geschehnisse stattfinden, ein außergewöhnlicher ist, davon verkündet gleich zu Beginn der Off-Erzähler: Ein unvergessliches Jahr sei es gewesen, heißt es da, das Jahr eines endlosen Winters und einer Hitzewelle, ein Jahr, in dem zahlreichen Filme entgleisten und das Jahr des 'Bang Gangs'. Und schon diese Wortverdrehung, die sich auf den aus der Pornographie stammenden Begriff 'Gang Bang' (für Gruppensex, meist mit starkem Männerüberschuss und unter Einbeziehung submissiver Elemente), deutet darauf hin, dass es Husson und ihren ProtagonistInnen nicht allein um Schockelemente geht, sondern um etwas anderes: Ein spielerisches Sich-Ausprobieren, ein gemeinsames Überschreiten von Grenzen, ein Nachahmen, Umformen und Verändern von Ritualen und Praktiken aus der Welt der Erwachsenen, die selbst mit neuer Bedeutung versehen werden sollen.

Die Bang Gangs, von denen der Film erzählt, beginnen als exzessive Partys im Haus des Womanizers Alex (Finnegan Oldfield), dessen Mutter den Jungen für einige Monate allein gelassen hat, da sie in Marokko weilt. Also zieht eines Tages selbstverständlich Nikita (Fred Hotler) bei ihm ein – und bald schon bekommen Georges (Marilyn Lima) und deren Freundin Laetitia (Daisy Broom) mit, das man an diesem Ort herrlich abhängen und auch unbeschwert Sex haben kann. Aus einer Laune und auch Enttäuschung über Alex heraus startet Georges ein Spiel, eine Art Flaschendrehen ohne Limits und Tabus, aus denen schließlich die Bang Gangs als Raves mit Drogen, (Gruppen)Sex und elektronischer Musik starten. Bis sie schließlich schnell wieder vorbei sind, weil irgendwelche Idioten Videos von den Partys bei YouTube hochgeladen haben und sich aufgrund des zumeist ungeschützten Geschlechtsverkehrs Syphilis und Gonorrhoe ausbreiten. Die Reaktionen und das Entsetzen der Erwachsenen sind heftig und bald schon werden die Wege der jugendlichen "Bang Gang" sich in alle Winde zerstreuen – gerade so, als sei das alles nur ein kurzer, heftiger und wilder Traum gewesen, eine Phantasie vielleicht, gespeist aus dem Wunsch nach Wärme und Freude, wie es Georges an einer Stelle formuliert. Und ohne es auszusprechen, ahnen wir: Es ist eine Wärme und Freude, die sie in der Welt der Erwachsenen weder finden noch wahrnehmen können – und damit auch ein freilich fehlgeleiteter Akt der Rebellion.

Bang Gang - Die Geschichte einer Jugend ohne Tabus ist bei aller vermeintlichen Drastik, die der Titel verspricht (und nicht einlöst – zumindest nicht im voyeuristischen Sinne), kein kalkulierter Tabubruch, wie dies etwa Larry Clarkes Kids oder Gaspar Noés Love waren, sondern vielmehr eine hinreißend in Bilder (Kamera: Mattias Troelstrup) und Töne (Musik: die M83-Mitstreiterin Morgan Kibby und deren Projekt White Sea) gefasste Beschreibung der komplizierten Welt, in der Teenager heute leben: In einer scheinbar freien Welt, in der nahezu jede Form der Rebellion bereits stattgefunden hat, in der es kaum noch Tabus gibt, in der Sexualität jederzeit und überall verfügbar ist, in der soziale Medien Verbundenheit vortäuschen, müssen sie ihren Weg finden. Und die Komplexität dieser Aufgabe impliziert geradezu, dass dabei bisweilen auch Irrwege und Sackgassen beschritten werden. Husson enthält sich jeglichen moralischen Urteils – und so spüren wir am Ende bei den Jugendlichen kein Bedauern über diesen kurzen, verrückten Sommer, sondern vielmehr eine lächelnde Erinnerung an eine Zeit, die einem niemand mehr nehmen kann – so 'falsch' oder 'verrückt' sie auch gewesen sein mag. Weil sie etwas aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben. Wie die Züge, von denen immer wieder die Rede während des Films ist, sind sie entgleist. Doch am Ende haben wir die Gewissheit, dass sie wieder auf der Spur sind. Und dass sie es selbst geschafft haben.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/bang-gang-die-geschichte-einer-jugend-ohne-tabus