Die Angst des Tormanns beim Elfmeter

Vom Fußball zur Existenzphilosophie

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Auch wenn der Titel und ebenfalls der Anfang des ersten Spielfilms von Wim Wenders stark darauf hindeuten, dass es sich hierbei um eine Fußballgeschichte handelt, geht es in Die Angst des Tormanns beim Elfmeter aus dem Jahre 1972 nur bedingt um den populärsten deutschen Sport. Vielmehr entwickelt sich aus dem recht unspektakulären Abgang eines Torwarts während eines Spiels vom Fußballplatz ein Roadmovie, das durch das Ereignis eines Mordes zu einem Thriller gerät, der allerdings die klassischen Elemente und Ausformungen dieses Genres überwiegend ignoriert.
Er wirkt insgesamt recht unkonzentriert beim Spiel seiner Mannschaft in Wien, der Profi-Tormann Josef Bloch (Arthur Brauss), und nach einem Foul sowie einem kleinen Gerangel mit dem Schiedsrichter wird er des Platzes verwiesen. Bloch kleidet sich um, packt seine Sporttasche und fährt spontan mit der Straßenbahn in die Stadt, mietet sich in einem Hotel ein und lässt sich erst einmal im anonymen urbanen Raum treiben. Schüchtern ist er nicht, besucht gern gesellige Lokalitäten, hält hier und da ein Schwätzchen, ist offensichtlich ein Frauentyp, der bei unverbindlichen Begegnungen rasch in Intimitäten gerät, und offensichtlich ein großer Fan von Filmen und Musik – jede Jukebox schmeißt er an, jedes Radio lässt er spielen, und in Sachen aktueller Filme ist er gut orientiert. Dies ist der Eindruck, den der Zuschauer eingangs von der Hauptfigur des vermutlich ungebunden lebenden Berufssportlers gewinnt, und im Verlauf der Dramaturgie ereignet sich kaum ein Zuwachs an Informationen über die bisherige Existenz dieses Mannes, der unvermittelt und ohne ersichtliche Motivation zum Mörder wird.

Es ist ein Besuch in einem Wiener Lichtspielhaus, der Bloch in Kontakt mit der hübschen Kinokassiererin Gloria (Erika Pluhar) bringt, die allerdings am ersten Tag der flüchtigen Begegnung nach Feierabend abgeholt wird, woraufhin sich der herumstreunende Torwart des Nachts mit einer anderen Zufallsbekanntschaft verlustiert. Beim nächsten Mal im Kino aber folgt Bloch der sich dessen wohl bewussten Gloria nach ihrer Arbeit zum Bus, steigt ihr beim Verlassen desselben nach, und es ist eine kleine Berührung seinerseits sowie eine ebenfalls wortlose Geste der Akzeptanz ihrerseits, die das Paar gemeinsam in Glorias Wohnung führen. Nach nächtens geteiltem Bett, morgendlichem Frühstück und ein paar belanglosen Gesprächsfetzen räkelt sich Gloria einladend herum, fängt den sich nähernden Bloch spielerisch mit einem Seil ein und wird dann ohne zuvor erkennbare Aggressionen oder andere Vorzeichen von diesem erwürgt, und zwar mit den bloßen Händen.

Ansatzweise ist er bemüht, seine Spuren zu beseitigen, wischt das von ihm benutzte Geschirr ab und verschwindet dann aus der Wohnung und der Stadt, unauffällig und ohne allzu hastige Fluchtbewegungen. Bloch schlägt nun eine ländliche Richtung ein und mietet sich ein Zimmer in einem Dorf, in dem seine frühere Bekannte Hertha Gabler (Kai Fischer) einen Grenzgasthof gepachtet hat, die er nun in allmählicher Annäherung bisweilen besucht. Hier ist die filmische Endstation des noch unentdeckten Mörders, dessen treffliches Phantombild bald in den Zeitungen erscheint. Hier harrt Bloch seiner wahrscheinlichen Überführung, einerseits unruhig, andererseits in unaufgeregter bis fröhlicher Stimmung, beispielsweise wenn er mit Herthas kleiner Tochter scherzt. Hier ereignet sich ein finales Gespräch mit einem Vertreter (Michael Toost) auf einem Fußballplatz, in dessen Verlauf der Tormann monologisch seine philosophische Standortbestimmung umreißt.

Auf Grund der ungeklärten Musikrechte des im Film ursprünglich gespielten, atmosphärisch bedeutsamen Liedguts konnte Die Angst des Tormanns beim Elfmeter lange nicht öffentlich aufgeführt werden, wurde aber in einer ansprechend durch die Wim Wenders Stiftung restaurierten Fassung mit einem Austausch einiger ehemaliger Songs etwa von Elvis Presley auf der diesjährigen Berlinale gezeigt, im Rahmen welcher der Filmemacher mit dem "Goldenen Ehrenbären" ausgezeichnet und durch eine Hommage mit der Aufführung von zehn Filmen seines Werks geehrt wurde. Die nun bei Arthaus erscheinende DVD mit dieser Filmfassung enthält als Bonus die Dokumentation Restoring Time von Andrew Amondson mit professionellen sowie ganz persönlichen Impressionen der Arbeit der Wim Wenders Stiftung. In diesem Zusammenhang bezeichnet der Regisseur selbst diesen Film als "Thriller ... ohne jede Spannung."

Nicht selten auch als "existenzieller Thriller" bezeichnet, fokussiert oder moralisiert Die Angst des Tormanns beim Elfmeter das Verbrechen, den Mord, nicht als solchen oder thematisiert gar die Ermittlungen oder auch nur die Aufklärung hinsichtlich eines Tatmotivs, sondern bleibt beharrlich nah am Täter, der selbst nur selten – und dann allenfalls situativ oder flüchtig – den Aspekt der Nähe, des Vertrautseins zu anderen Menschen herzustellen vermag, und selbst bei den visuell ausgesparten Intimitäten mit Frauen herrscht Distanz vor. Erst am Ende erleben wir den tristen Torwart in einer engagierten symbolträchtigen Rede, deren Platzierung als Abschluss der Geschichte scheinbar keinerlei dramaturgische Notwendigkeit ausweist, ebenso wenig wie zahlreiche andere Sequenzen des Films. Ob wir Josef Bloch vor oder nach seinem Mord an der Kinokassiererin antreffen, und ob sie das Opfer ist oder aber eine der anderen Frauenfiguren, erscheint bedeutungslos, und nach der Sichtung des Films könnte gleich eine weitere, auch anders angeordnete folgen, ohne dass sich seine Aussage – oder eben die Verweigerung einer solchen – signifikant verändern würde.

Der Tormann als Charakter und Metapher treibt durch eine kühle, unverbindliche Welt, stets auf der Suche nach Klang, Rhythmus, Fiktion und Vergnügen, wie um die letzten Tage vor einem Abgleiten in ein gänzlich anderes Leben noch auszukosten. In diesem Sinne bietet der Mord ihm eine Perspektive, die er nicht einmal mehr abwägen muss, denn die Aussicht auf dauerhafte Inhaftierung enthebt ihn nach dem Verweis vom Spielfeld sozusagen jeglicher akuten Reflexion und Sinnsuche. Diese schwer greifbare Interpretation des Films ist jedoch nur einer von zahlreichen möglichen Ansätzen, diesen Stoff zu verstehen und zu ver- oder bearbeiten, derart unzugänglich gestaltet sich Wim Wenders kompliziertes, doch unprätentiöses Debüt, das mit Schriftsteller und Dialogtexter Peter Handke, Kameramann Robby Müller, Schnittmeister Peter Przygodda und Komponist Jürgen Knieper eine ganz besondere, noch häufig kooperierende Crew versammelt hat. Inwieweit hier ein derber Zynismus zur Entfaltung kommt, bleibt ebenso offen wie zahlreiche andere Fragen, die Wim Wenders seinem Publikum anträgt und zumutet, nicht ohne dabei eine Faszination von einer bestimmten Größe und Tiefe zu transportieren, auch und vor allem jenseits gewählter Rede.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/die-angst-des-tormanns-beim-elfmeter