Unser kurzes Leben

Wohnst du noch oder lebst du schon?

Eine Filmkritik von Falk Straub

Brigitte Reimanns Hauptwerk Franziska Linkerhand ist unvollendet geblieben. Die Schriftstellerin starb an Krebs, bevor sie den Roman vollendet hatte. Lothar Warneke hat das Fragment unter dem Titel Unser kurzes Leben verfilmt. Die DEFA-Produktion aus dem Jahr 1980 liegt nun erstmals auf DVD vor.
Hätte es den Begriff der Quarterlife Crisis seinerzeit schon gegeben, Franziska Linkerhand (Simone Frost) litte wohl daran. Die junge Architektin steht an einem Scheideweg. "26 Jahre und noch nicht gelebt, nur Leben vorbereitet, probiert vielleicht. Noch nichts gebaut, niemanden geliebt", so reflektiert sie selbst ihre Lage. Ihre Ehe mit dem Säufer Wolfgang (Uwe Kockisch) steht vor dem Aus. Statt eine Karriere an der Seite ihres berühmten Professors (Dietrich Körner) anzustreben, geht Franziska von Dresden in die ostdeutsche Provinz, um Wohnungen zu bauen. Ein neues Leben, eine neue Liebe. Doch auch dort werden ihre Erwartungen enttäuscht.

Regisseur Lothar Warneke setzt das mit "Freundlichkeit" um, wie er in der Rückschau im Interview des Bonusmaterials der DVD sagt. Seine Franziska Linkerhand, wunderbar lebendig von Simone Frost interpretiert, ist nicht ganz so rigoros wie Brigitte Reimanns Romanfigur. Ihr Lebenshunger und ihr Enthusiasmus sind dennoch zu spüren. Franziska ist eine Suchende, die mit kindlicher Lust Gefühl und Verstand vermischt und dadurch, mal nassforsch, meist jedoch ungewollt, die Männer um sich herum für sich einnimmt. Früher oder später erliegt jeder ihrem schroffen, unverbrauchten Charme. Die junge Frau mit der Kurzhaarfrisur weckt wahlweise den Beschützerinstinkt, den Drang zur Bevormundung oder das Verlangen ihrer Gegenüber. Viele sehen in Franziska etwas, das sie selbst resigniert aufgegeben oder verraten haben: ein inneres Feuer, einen Kampf für Ideale, ein Verlangen, der Nachwelt etwas zu hinterlassen. Franziska will lieber 30 wilde als 70 brave und geruhsame Jahre. Doch der Ausbruch aus gesellschaftlichen Zwängen gestaltet sich schwierig.

Als Symbol für diesen Kampf wählt Warneke die Architektur. Mit seiner Kritik am sozialen Wohnungsbau hält der Regisseur nicht hinterm Berg. Franziskas Geliebter Trojanovicz (Gottfried Richter) stuft die Neubauten zu einer "Siedlung von Fernsehhöhle"“ herab. Franziska selbst setzt sich vehement für eine Auflösung der strikten Trennung von Wohn-, Arbeits- und Freizeitbereich der Betonstädte ein. Das Credo ihres Professors hat sie da längst verinnerlicht: "Architekten schaffen den Raum für das Leben. In welcher Sprache gibt's das noch, dass leben und wohnen zwei verschiedene Begriffe sind?", philosophiert der. Es ist eine Unterscheidung, die der sozialistische Realismus mit seinen Plattenbauten zementiert. Eine menschenfeindliche Architektur, die ihre Bewohner in den Selbstmord treibt. So kann der Zuschauer das zumindest interpretieren, wenn sich die Sekretärin Gertrud (Christine Schorn) dem Tod entgegensäuft und dann den Gashahn aufdreht. Direkt in Zusammenhang setzt Warneke den Freitod mit der Beschränktheit des Wohnraums freilich nicht.

In der Rückschau erstaunt manche Entscheidung der Zensurbehörden, warum der eine Film der Schere zum Opfer viel, ein anderer wie Unser kurzes Leben nicht. Vielleicht liegt es an Warnekes versöhnlichem Ton. Seine Kritik ist nicht scharf und ätzend, sondern milde, manchmal versteckt, aber stetig. Und vor allem eines: konstruktiv. Anstatt nur am Status quo herumzumäkeln, zeigt Unser kurzes Leben Menschen, die eine Lösung parat haben. Franziska kämpft nicht gegen das System an sich, hält es nicht für grundlegend falsch, sondern will es von innen heraus verbessern. Eine Idealistin, die (noch) an die Reformfähigkeit glaubt – und die für ihren Kampf ein Zitat des Architekturkritikers, Philosophen und Soziologen Lewis Mumford einspannt: "Die Stadt ist die kostbarste Erfindung der Zivilisation, die als Vermittlerin von Kultur nur hinter der Sprache zurücksteht."

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/unser-kurzes-leben