Idioten (1998)

Lars von Trier am Ausgang des 20. Jahrhunderts

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Es ist eine ansprechende Qualität vor allem der noch im vergangenen Jahrhundert entstandenen Werke des Dänen Lars von Trier, dass sie auf Grund der starken Verwurzelung in ihrer Rezeptionsgeschichte auch viele Jahre nach ihrem ersten Erscheinen für sich (erneut) betrachtet ihren Eindruck erstaunlich verändern können. Das liegt nicht nur an der enormen Diskrepanz, die häufig zwischen dem Hype um den Film und diesem selbst entsteht, sondern auch am jeweilig vorherrschenden Zeit- und Kinogeist, in den dieser gerade hineinproduziert wird. Während sich die Gesellschaft, die Filmkultur und die Gepflogenheiten der Rezeption wandeln, bleibt der Film selbst nur scheinbar derselbe, in Abhängigkeit von der Betrachtungsperspektive und -intention und vor allem auch eingebettet in das Gesamtwerk des Regisseurs, das enorme unterschiedliche Entwicklungen aufweist.

Idioten von 1998, der seinerzeit in den Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele von Cannes berufen wurde, hat damals als zweiter nach den Forderungen von Dogma 95 realisierter Film drastisch durchwachsene Kritiken hervorgerufen und wird auch heute noch überwiegend auf seine provokative Komponente und seine formale Frech- und Freiheit hin rezipiert. In mehrfacher Hinsicht stellt diese Tragikomödie mit vorgeblich dokumentarischen Elementen vor dem Hintergrund des Dogma 95 Konzepts ein experimentelles Werk dar. Dieses Attribut bezieht sich sowohl auf die Entstehung des Filmprojekts selbst als auch auf seine inhaltlichen Dimensionen, wie die Dokumentation Die Gedemütigten von Jesper Jargil anschaulich demonstriert, die als Bonus auf der nun erschienenen DVD von Arthaus zu finden ist und eine Art Videotagebuch der Dreharbeiten liefert.

Im öffentlichen Raum beginnt das fiktive Experiment, das im Zentrum des Films steht, und es ist derselbe, der hier hinsichtlich seiner Bedingungen für und Reaktionen auf eine ganz besondere kleine Truppe in unterschiedlichen Zusammenhängen ausgetestet wird. Als die zurückhaltende, recht einfältig wirkende Karen (Bodil Jørgensen) bei einem Restaurantbesuch auf eine Gruppe augenscheinlich mental-emotional auffällig agierender Menschen mit ihren unterstützenden Betreuern trifft, die ebenfalls dort speist, fällt sie zunächst auf deren Inszenierung von distanzlos erscheinenden Konfrontationen mit der Durchschnittsbevölkerung herein. Als sie sich aus Gutmütigkeit dem anhänglichen Stoffer (Jens Albinus) gegenüber dem baldigen Aufbruch anschließt, gesellt sie sich spontan zu den Aussteigern, die "Idioten" spielen und als umtriebige Kleinkommune gemeinsam in einem Landhaus leben. Von hier aus strömen sie in die rurale Nachbarschaft und auch weitere Umgebung aus, um etwa im Rahmen von kleinen wohltätigen Haustürgeschäften und einer Fabrikbesichtigung den Umgang der gewöhnlichen Gesellschaft mit so genannten Behinderten zu erforschen. Doch auch innerhalb der Gruppe entstehen schwelende Spannungen und situative Eskalationen angesichts der Vorgaben eines vermeintlich locker-natürlichen Verhaltenskodex...

Innerhalb des Gesamtwerks von Lars von Trier, der sich hier bei den Credits zunächst bewusst nicht als Regisseur aufführen ließ, wird Idioten zur so bezeichneten Goldene-Herzen-Trilogie gezählt, chronologisch zwischen dem ersten Teil Breaking the Waves (1996) und dem dritten Dancer in the Dark (2000) angesiedelt. Fußend auf dem Gedanken, dass augenscheinlich als eingeschränkt und benachteiligt geltende Menschen bei Zeiten eine stark ausgeprägte Authentizität, Unschuld und gar Reinheit verströmen können, hat der Vollblut-Filmemacher in diesem Rahmen drei Frauencharaktere entworfen, entwickelt und eskalieren lassen, deren Tragik von einem unsagbar intensiven Symbolismus umgeben ist: die zu den Idioten stoßende Karen, die wellenbrechende Bess (Emily Watson) und die durch die isländische Musikerin Björk verkörperte, beinahe blinde Selma.

In Ausrichtung eines damals innovativen Filmschaffens und eines ebensolchen Prozesses im Rahmen der Dreharbeiten schert sich Idioten als zweiter Dogma 95 Film nach Das Fest von Thomas Vinterberg bewusst wenig um gängige Ästhetik oder gar Schönheit, um seine formalen wie inhaltlichen Intentionen zu transportieren. Das Unbehagen und das Empfinden der Brisanz, das den durchaus auch schon mal ob der Dreistigkeit der Darstellung schadenfrohen Zuschauer ergreift, wird hier so geschickt wie effektvoll von einem meist unterschwelligen Zynismus mit kritischer Komponente dem eigenen Konzept und der eigenen Geschichte gegenüber getragen. Das ist ungefällige, markante Filmkunst jenseits des glättenden Kunstbegriffs, die nicht nur in filmhistorischer Hinsicht bedeutsam ist, sondern auch direkt und derbe emotional zu berühren vermag.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/idioten