Die 120 Tage von Sodom (Blu-ray)

Im Höllenkreis der Leidenschaften, der Scheiße, des Blutes (und der Zensur)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Im Laufe eines Kritiker- oder Cineastenlebens kommt man zwangsläufig auch mit jenen Filmen in Berührung, von denen man früher schon einmal in studentischen Proseminaren raunenderweise gehört hatte, von den ungeheuerlichen Filmen, den cineastischen Skandalen und den Folgen, die sie vor Gericht oder im Verdauungsapparat des Rezipienten zeitigten. Und je nach eigenem Gusto kommt man früher oder später nicht umhin, den einen oder anderen dieser Filme selbst in Augenschein zu nehmen – und muss dabei häufig genug feststellen, dass der Skandal mit einigem Abstand betrachtet heute kaum der Rede mehr wert ist. Pier Paolo Pasolinis letzter vollendeter Film Die 120 Tage von Sodom gehört mit Sicherheit und einiger Berechtigung in die Reihe der filmischen Skandale – und auch heute erweist sich der Film noch als heftiger Schlag in den Magen.
Im Jahre 1944 ist das Regime des "Duce" Benito Mussolini längst zusammengebrochen. Die Alliierten sind gerade dabei, Italien von der Geisel des Faschismus zu befreien. Einzig in der Republik von Salò (offizieller Name: Repubblica Sociale Italiana) im Norden Italiens am Westufer des Gardasees halten sich mit Hilfe des Deutschen Reiches die neu gegründeten italienischen Faschisten und träumen weiter von einem großrömischen Reich wie zu Zeiten der Cäsaren. In diese bizarre historische Zeit hinein hat Pasolini seine Adaption des Buches Die 120 Tage von Sodom des Marquis de Sade versetzt – sein Film ist ein wütender Aufschrei über die Macht der Mächtigen und die Ohnmacht derer, die zu Opfern menschenverachtender Systeme und Regime werden: "Die Mächtigen sind immer Sadisten, und wer Macht erdulden muss, dessen Körper wird zur Sache, zur Ware." (Pier Paolo Pasolini). In gewisser Weise zeigt Pasolinis filmisches Vermächtnis auf überaus drastische Weise die Perversität aller Macht – und wenn man sich die heutigen Machtverhältnisse auf der Welt und im Kleinen anschaut, wird man feststellen, dass dieser Film nichts von seiner Bissigkeit, seiner Wut, seinem Furor verloren hat.

Neben dem perversen Marquis gibt es noch einen weiteren literarischen Bezugspunkt: Dante Alighieris Göttliche Komödie bildet die strukturelle Blaupause für Pasolinis Einteilung in die drei Höllenkreise der Leidenschaften, der Scheiße und des Blutes, die den Film gliedern. Diese bestialischen Zyklen müssen vier junge Männer und vier junge Frauen durchschreiten, die als hilflose Opfer eines Quatrumvirats (schon allein die Zusammensetzung mit einem Präsidenten, einem Vertreter der Kirche, einem Adeligen und einem Richter deutet an, dass es hier um staatliche wie gesellschaftliche Machtstrukturen geht) deren amoralischen Launen und sexuellen Gelüsten die jungen Leute schutzlos ausgeliefert sind. Gelangweilt vom Leben und mit der Gewissheit, dass ihre Macht sich nicht mehr lange wird halten können treiben sie ihre Spiele mit den Gefangenen, die sie schließlich als Strafe für während ihres Aufenthalts begangene Missetaten bestialisch foltern und ermorden.

Nun ist der Film erstmals in Deutschland im Handel erhältlich, doch die Freude über die Veröffentlichung wird leider durch ganz erhebliche Eingriffe seitens des Publishers EuroVideo getrübt, der den Film von 117 Minuten auf sage und schreibe 93 Minuten Laufzeit herunter verstümmelte. Diese, so ist zu vermuten, haben ihre Ursache in der nach wie vor bestehenden Indizierung, die seit 1987 besteht. Nur mit erheblichen Schnitten war Pasolinis wüstes und immer noch faszinierendes "Opus magnum" überhaupt auf eine FSK18-Freigabe zu bringen. Dies ist aber keinesfalls das einzige Ärgernis um diese Veröffentlichung, die eigentlich eine schmerzliche Lücke füllte. Ein fast ebenso großer Skandal ist die Tatsache, dass auf dem Cover der Blu-ray die falsche Laufzeit angegeben ist, die intendiert, es würde sich hier um die ungekürzte Fassung handeln.

Ein Meilenstein der Filmgeschichte hat mit Sicherheit eine andere Behandlung verdient, als diesem Film hier zuteil wurde. "Pier Paolo Pasolinis schockierendes Opus Salò oder die 120 Tage von Sodom ist seit seiner Entstehung immer wieder Gegenstand heftiger Zensurdebatten. "Kaum ein Film wurde so oft verfolgt, verstümmelt, angeklagt und verboten", ist auf dem Cover der Blu-ray zu lesen - man möchte hinzufügen, dass sich diese Geschichte nun nahtlos mit dieser Neuedition fortsetzt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/die-120-tage-von-sodom-blu-ray