Einen Sommer lang

Fähre in die Vergangenheit

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Es ist ein gleichermaßen seltsamer wie bedeutsamer Tag im Leben der Balletttänzerin Marie (Maj-Britt Nilsson), die als Primaballerina gerade mit ihrem Ensemble die Kostümprobe für Schwanensee durchexerziert, als ein Päckchen für sie abgegeben wird. Wegen eines Stromausfalls wird die Probe auf die Nacht vor der Premiere verschoben, und so ergibt sich für Marie unverhofft freie Zeit, als sie in dem Päckchen das Tagebuch ihrer Jugendliebe Henrik (Birger Malmsten) findet, mit dem sie einst in den Ferien einen Sommer auf einer kleinen Insel verbrachte, wo er einen tragischen und schließlich tödlichen Unfall erlitt. Zunächst streift Marie gedankenverloren umher, wobei sie bald ihren Freund, den Reporter David (Alf Kjellin) trifft, den sie offensichtlich in dem Bedürfnis nach Nähe zu sich nach Hause einlädt. Doch David erahnt ihre bedrückte Befindlichkeit nicht, und es kommt zu einer Missstimmung, so dass Marie nach einer kurzen Begegnung mit dem Pastor (Gunnar Olsson), der sie einst konfirmierte, spontan die Fähre besteigt, die sie nicht nur auf jene kleine Insel, sondern geradewegs in ihre Erinnerungen an damals befördert.
In ausführlichen, atmosphärisch dichten Rückblicken erfährt der Zuschauer von Ingmar Bergmans Einen Sommer lang aus dem Jahre 1951 von der zarten, wenn auch keineswegs stets harmonischen Verbindung zwischen Marie und Henrik, die sich auf der karg bevölkerten Insel überwiegend fern jeder Gesellschaft in der zauberhaften Natur entwickelt. Henrik ist ein zu störrischem Rückzug neigender Einzelgänger, der die Ferien bei seiner Erbtante (Mimi Pollak) verbringt, zu der er ein angespanntes Verhältnis hat und die in der kurzen Sequenz ihrer düsteren Präsenz im Film mit dem Pastor Schach spielt, während sie in geradezu heiterer Manier das Thema des Todes berührt – hier wirft Ingmar Bergmans Klassiker Das siebente Siegel / Det sjunde inseglet von 1957 bereits seine mächtigen Schatten voraus. Während der schwermütige Henrik, dem durchaus ein Hang zum Freitod zuzutrauen ist, mit seinem eigenen schwierigen Charakter kämpft, flirtet Marie mitunter unbefangen mit ihrem um einiges älteren Onkel Erland (Georg Funkquist), der mehr als nur ein Auge auf sie geworfen hat und dessen Geliebte sie später wird.

Sowohl Regisseur Ingmar Bergman als auch der französische Filmemacher Jean-Luc Godard, der ein passionierter Bewunderer der Werke seines verstorbenen schwedischen Kollegen ist und Einen Sommer lang als dessen schönsten Film bezeichnet hat, äußerten sich deutlich begeistert über dieses feinsinnige, unspektakuläre Drama mit seinem überschaubaren Zeitrahmen, der überwiegend im Modus der Erinnerung angelegt ist. Mit seiner sanften Melancholie, seinen wohligen Naturbetrachtungen, seinen außergewöhnlichen Lichtverhältnissen und den nicht selten langen Einstellungen seiner schwarzweißen Bilder nimmt sich Einen Sommer lang vordergründig als leichtgängige Romanze mit tragischer Wendung aus. Doch das markante Merkmal des legendären schwedischen Filmemachers, beinahe jede zwischenmenschliche Beziehung zumindest mit dem Potenzial, meist aber mit der Gewissheit einer abgrundtiefen Verstörung und Verzweiflung auszustatten, deutet sich auch hier durchaus tendenziell an, selbst wenn dieser Film vor allem mit seinem annähernd harmonisierenden Ende zu seinen noch am ehesten heiteren Sommergeschichten zählt. Dabei trifft Marie, die mit ihren rund dreißig Jahren sicherlich den Zenit ihrer Laufbahn als Tänzerin überschritten hat und sich als anscheinend desillusionierte Frau recht vorsichtig durch ihre Gefühlswelten bewegt, an diesem bedeutsamen Tag in ihrem Leben fast unmerklich die Entscheidung, die Last der Erinnerung zu teilen, abzuwerfen und damit Raum für so etwas wie beginnendes Glück zu schaffen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/einen-sommer-lang