Decoder (DVD)

Formidables Eighties-Fundstück

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Seltsames Gesäusel, blau eingefärbte Bilder, ein Hard-Boiled-Detective-Typ mit Lotter-Mantel und müdem Blick, ein gewaltiges Regierungsgebäude, irre Kamerafahrten durch endlose Korridore, und dazu starke Sounds, das Rattern komplizierter Apparaturen sowie die zynischen Worte entnervter Mitarbeiter: Schon allein die Einstiegssequenz von Decoder ist als Seherlebnis aufregender und berauschender als viele andere Filme in ihrer Gesamtheit. Das in den frühen 1980er Jahren entstandene Underground-Wunderwerk im Dark-Future-Stil stammt von dem 2003 gestorbenen Künstler Jürgen Muschalek aka Muscha und kann seit Kurzem auf DVD (wieder-)entdeckt werden. Damit dürfte es wohl selbst der spartanischsten Bude oder dem spießigsten Wohnzimmer einen Hauch von Cyberpunk verleihen – und wird wahrscheinlich jeder vermeintlich coolen U40-Person auf schmerzhafte Weise ins Bewusstsein bringen, dass sie selbst ja eigentlich total "derrière-garde" ist.
Der junge Technik-Bastler F.M. (Frank-Martin Strauß alias FM Einheit) gelangt zu der Erkenntnis, dass die unaufdringlich-heitere Musikbeschallung in den Fast-Food-Läden der Stadt als Mittel eingesetzt wird, um die Leute zu stumpf-zufriedenen Konsumenten zu machen. Es gelingt F.M., die Signale der harmlos wirkenden Berieselungsklänge in seinem Heimstudio zu decodieren. Als er schließlich Einfluss auf das musikalische System der Burger-Ketten nimmt, kommt es zum Aufstand der Bevölkerung. Ein Agent der Regierung (William Rice alias Bill Rice) wird beauftragt, F.M. zu stoppen – der Mann hat jedoch eine Obsession für F.M.s Freundin Christiana (Christiane Felscherinow alias Christiane F.) entwickelt, die wiederum eine eigentümliche Vorliebe für Frösche hegt und als Peep-Show-Tänzerin im Rotlichtviertel arbeitet.

Dass FM Einheit und Christiane F. keine professionellen Schauspieler sind, ist rasch offensichtlich – als missmutiger Loner mit Kassettenrekorder bzw. als unflätige Amphibien-Fanatikerin sind die beiden hier aber fraglos ein echtes Ereignis: Denn während er die Angry-Young-Man-Attitüde herrlich abgetakelt verkörpert, sieht sie in ihrer Aufmachung mindestens so stylish aus wie Daryl Hannah in Blade Runner. Neben der Mitwirkung des expressiven Bill Rice, der seine Agentenrolle in bester Humphrey-Bogart-Tradition anlegt, sind nicht zuletzt die Gastauftritte von Naked Lunch-Autor William S. Burroughs und Performance-Artist Genesis P-Orridge überaus reizvoll: Ersterer ist als mürrischer Verkäufer in einem Laden für elektronische Bauteile zu sehen, Letzterer hält eine aufrührerische Predigt als Piraten-Hohepriester im Setting einer kultischen Messe, in welche der Protagonist beim Sammeln neuer Geräusche hineingerät. Zu all dieser Gegenkultur-Grandeur kommen noch wunderbare Songs hinzu, etwa vom Synthie-Pop-Duo Soft Cell oder von der Experimental-Band Einstürzende Neubauten. Decoder ist eine Perle des Abseitig-Obskuren – wie schön, (wieder) auf sie stoßen zu können!

Das Drehbuch, das Muscha gemeinsam mit Klaus Maeck, Volker Schäfer und Trini Trimpop (frei nach einer Vorlage der Beat-Generation-Ikone Burroughs) geschrieben hat, ist zweifelsohne reichlich krude. Und doch ist dieser düstere, wild-wütende Film, der in mancher Hinsicht an Jean-Luc Godards Alphaville erinnert, nicht ausschließlich als kurioses Zeitdokument und Kultstreifen der Industrial-Szene interessant. Die gezeigte Angst vor einer Big-Brother-artigen Regierung, die ihre Bürger überwacht, kontrolliert und manipuliert, hat die Jahrzehnte (wahrlich nicht ohne Grund) überdauert – und in einigen der präsentierten Situationen ist unsere aktuelle Lebenswelt erschreckenderweise durchaus zu erkennen: Wenn F.M. und Christiana gelangweilt dreinschauend miteinander telefonieren, obwohl sie sich im selben Raum befinden, kann man das als Vorwegnahme des gegenwärtig verbreiteten Kommunikationsverhaltens begreifen – und wenn das adoleszente neue Personal einer Junk-Food-Filiale in Drill-Manier geschult und "erzogen" wird, ist das nicht weit vom zwangsoptimierten Alltag der heutigen Jugend entfernt. In den assoziativ eingesetzten Bildern und Tönen von Decoder steckt nicht nur Provokation und Wahnsinn, sondern auch sehr viel Klugheit.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/decoder-dvd