Arthaus Close Up - Dogma 95

Drastisches dänisches Dogma

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Beinahe zwanzig Jahre ist es her, da formulierten und unterzeichneten vier dänische Regisseure ein zehn Regeln umfassendes Manifest zur Produktion von Filmen, das als "Dogma 95" in die Geschichte der bewegten Bilder einging und eine Reihe kurioser Filme inspiriert hat, die den Forderungen von Lars von Trier, Thomas Vinterberg, Kristian Levring und Søren Kragh-Jacobsen nach einer schlichten, "keuschen" Art des Filmemachens folgten. Um der zunehmenden Entfremdung des Kinos mit seinen immer stärker etablierten Spezialeffekten entgegenzuwirken, wurde unter anderem der Einsatz von Handkameras ebenso postuliert wie der Verzicht auf künstliche Beleuchtung und Filter, wobei sich die Handlung ohne eigens dafür besorgte Requisiten an Originalschauplätzen im Hier und Jetzt ereignen und keine Filmmusik nachträglich eingespielt werden sollte. Auch wenn sie nicht immer alle Dogma-Regeln akribisch einhielten, stellten doch einige Filmemacher ihre Projekte unter das Motto des Manifests, für dessen ansprechende Auswirkungen die Initiatoren 2008 mit dem Europäischen Filmpreis für die Beste europäische Leistung im Weltkino prämiert wurden. Drei frühe, markante Dogma-Filme aus den Jahren 1998 bis 2000 präsentiert nun die Arthaus Edition Dogma 95 als markantes Close-Up einer innovativen, damals nicht selten belächelten filmtheoretischen Bewegung, dessen praktische Produkte von der Qualität der ungezähmten Frische zeugen, mit welcher die scheinbar beschränkenden Regeln in der Umsetzung zu fruchtbarer Entfaltung gelangt sind.
Längst zu einem ungefälligen Klassiker der tragischen Familiengeschichten avanciert stellt Das Fest / Festen von Thomas Vinterberg aus dem Jahre 1998 noch immer eine schaurig-beklemmende Anklage von Kindesmissbrauch und seinen ermöglichenden und erhaltenen Strukturen dar, wobei es dem geradezu brachial inszenierenden Regisseur und Drehbuchautor beachtlicherweise gelingt, dem Entlarvungsakt des Opfers letztlich sowohl eine eigene positive Perspektive der Veränderung als auch eine rigorose Verurteilung des Täters beizugesellen. Plakativ-provokativ gestaltet sich die naturalistisch anmutende Satire Idioten / Idioterne (1998) als derbe Attacke Lars von Triers einerseits gegen gängige cineastische Sehgewohnheiten und andererseits gegen das vorherrschende Sittlichkeitsempfinden gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts, welches er durch die Darstellung der drastischen Umtriebe einer bunten Truppe experimentell orientierter Aufrührer perturbiert. Mit Italienisch für Anfänger / Italiensk for begyndere von Lone Scherfig schließlich, der im Dezember 2000 als Überraschungserfolg in den dänischen Kinos startete, zeigt sich Dogma 95 von einer zutiefst humanistischen, humorvollen Seite. Diese gleichermaßen leicht schräge wie überaus sympathische Komödie wartet mit einem erfrischenden Ensemble allzu menschlicher Typen auf, die am Rande der Verzweiflung um ein würdiges Bestreiten ihres holprigen Daseins kämpfen und in italophonen Gefilden sozialen Anschluss und ihr eigenes kleines, ganz persönliches Glück finden.

Es ist eine feine, vielseitige und durchaus zur mehrfachen Sichtung geeignete Auswahl eigensinniger dänischer Filmkunst, die das Arthaus Close-Up Dogma 95 beinhaltet, das über ansprechendes Bonusmaterial zur Dogma-Bewegung verfügt. Es ist nicht zuletzt die effektive Kombination aus den Regeln des Manifests und einer weitreichenden Improvisation der Schauspieler, die diese drei Filme zu kostbaren Kleinoden der Filmgeschichte geraten lässt, die über ihre speziellen Entstehungsbedingungen hinaus schlichtweg berührende Geschichten erzählen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/arthaus-close-up-dogma-95