Live and Let Live

Wenn kluge Menschen kluge Dinge sagen

Eine Filmkritik von Rajko Burchardt

Diskussionen um Vegetarismus verlaufen in der Regel ziemlich gleich. Da gibt es eben die sogenannten Veggies, für die Fleischverzicht mehr als nur eine Ernährungsweise, gar eine Frage der Weltanschauung ist. Sie argumentieren gegen Massentierhaltung und für Umweltbewusstsein, und sie tun das meist ebenso moralisch wie selbstsicher, weil sich ihr Anliegen gegen Konventionen richtet. Gegen ein vorherrschendes Denken, das ihnen falsch erscheint. Und dann gibt es natürlich Menschen, für die Tierprodukte zu Ernährung, Kleidung oder überhaupt einem vielfältigen Alltagsbedarf ganz selbstverständlich dazugehören. Sie fühlen sich belehrt, gemaßregelt, verurteilt, nicht zuletzt, weil Vegetarismus schon per se einen gewissen Missionierungsanspruch in sich trägt. Wenn die entsprechende Kommunikation dann so richtig gestört ist, muss man nach polemischen Schlagworten nicht lang suchen: "Öko-Nazi" versus "Fleischfresser", darauf läuft es allzu oft hinaus.
Ein Dokumentarfilm wie Live and Let Live hat es deshalb eigentlich von vornherein nicht leicht, zumal sich hier auch noch (fast) alles um das sozusagen nächste Level ökologisch verantwortungsvoller Lebensweisen dreht, den Veganismus. Wenn dieses via Crowdfunding teilfinanzierte Projekt von Marc Pieschel, Herausgeber veganer Kochbücher und Ratgeber, sich also nicht nur an eine Peergroup richten möchte, muss es jegliche Agitation wohl drosseln (und vielleicht hat der Titel hierbei auch eine doppelte Bedeutung). Weniger kämpferisch ist der Film deshalb allerdings nicht: Ihm gelingt es, das Thema mit einer Fülle sorgfältiger, unaufgeregt präsentierter Daten und Fakten, mit individuellen Erfahrungsberichten und nicht zuletzt auch über anregende philosophische Exkurse zu vermitteln. Und dabei weniger radikal vorzugehen, als etwa Shaun Monson in seinem Essay Earthlings (2005).

Sechs Menschen stehen im Mittelpunkt des Films. Sie alle haben sich in ihrem Leben dazu entschieden, komplett auf Tierprodukte zu verzichten. Das junge Paar Ria und Hendrik etwa engagiert sich für die Organisation Animal Equality. Gemeinsam befreien sie in nächtlichen Aktionen "offen", was hier unmaskiert bedeutet, Hühner aus ihrer Käfighaltung. Dem Aktivismus der beiden ist ein entsprechend unverstellter Duktus zueigen, sie sprechen nicht von Tieren, sondern Individuen. Oft ist da die Rede von Sklaverei, Ausbeutung und Unterdrückung. Das mag harsch wirken, unwahr ist es nicht.

Die beiden US-Amerikaner Aaron und Jack wiederum geben Einblicke in ein veganes Leben, das auch mit Berufen vereinbar ist, die ihre Ernährung erst einmal wenig nahe liegend erscheinen lassen. Aaron, Chefkoch eines veganen Restaurants in Portland, berichtet dabei über ganz eigene Schlüsselereignisse, der professionelle Bahnradfahrer Jack räumt mit gängigen Lebensmittelmythen auf. Veganer seien weder mangelernährt noch benötigten sie als Sportler ihr Protein aus Fleisch. Und wenn selbst Athleten problemlos vegan leben könnten, so müsse das für alle anderen erst recht kein Problem sein.

Jan und Karin hingegen haben Deutschlands erstes "Kuhaltersheim" gegründet, eine Konsequenz ihrer beruflichen Erfahrungen in der Landwirtschaft. Auf ihrem Hof bieten sie verschiedenen Tieren ein neues Zuhause, heißt es. Und was sie zu erzählen haben, schrammt meist nur haarscharf an der Trivialitätsgrenze vorbei. Vielleicht weiß der Film das auch selbst. Zumindest ergänzt er seine sechs Geschichten (die von einer recht überflüssigen Quasi-Rahmenhandlung zusammengehalten werden, in der die 24jährige Kati wahlweise mit ihrem Hund herumtollt oder über Veganismus plaudert) um wissenschaftliche Perspektiven, die dann auch das eigentliche Herzstück von Live and Let Live bilden.

Viele kluge Menschen sagen da viele kluge Dinge. Verhaltensbiologen, Rechtswissenschaftler, Soziologen, Farmer, sogar Tropenökologen – Pieschel bringt unterschiedlichste Sichtweisen zum Thema ein. Es ist spannend, diesen Menschen zu lauschen. Weil sie nicht nur moralisch und ethisch, sondern ganz vernunftgemäß argumentieren: Über die unbestrittenen Folgeerscheinungen von Fleischkonsum und Intensivtierhaltung, über Gesundheit und Umwelt betreffende Auswirkungen, ganz deutlich auch über multiresistente Keime, Regenwaldabholzung, CO2-Belastung. Das alles ist so konkret wie logisch. Und hat letztlich weniger mit alternativen Lebensweisen, als vielmehr mit klarem Verstand zu tun.


Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/live-and-let-live