Herzflimmern

Ödipus außer Atem

Eine Filmkritik von Falk Straub

Obwohl er zur Generation eines Truffaut, Godard oder Chabrol gehörte, zählte sich Louis Malle selbst nie zur Nouvelle Vague. "Papas Kino“ eher wohlgesinnt war Malle – von Zazie einmal abgesehen – nie ein Bilderstürmer. Frisch und kontrovers waren seine Filme dennoch: inhaltlich. Auch in Herzflimmern berührt Malle ein Tabu.
„Ich hatte stets Freude daran, Menschen dazu zu bringen, ihre vorgefassten Meinungen zu überdenken“, sagte Louis Malle Anfang der 1990er in einem Interview mit dem Filmjournalisten Philip French. Diesem Satz hatte Malle eine Anekdote vorausgeschickt: Als Herzflimmern Anfang der 1970er in Frankreich anlief, machte er sich einen Spaß daraus, Zuschauer vor den Kinos auf den Champs-Élysées zu belauschen, die nach einer Vorstellung über seinen Film diskutierten. Und zu diskutieren gab es jede Menge. Viele wussten nicht, was sie da gerade gesehen hatten. Zwar verließen sie beschwingt das Kino, eine der letzten Szenen des Films bereitete ihnen jedoch Unbehagen.

In Herzflimmern erzählt Malle – mit reichlich Bezügen zur eigenen Biografie – die Geschichte des 14-jährigen Laurent (Benoît Ferreux). Wie der Regisseur steht auch Laurent auf Jazz, sammelt fürs Rote Kreuz, besucht eine katholische Schule und beschäftigt sich mit dem Thema Selbstmord. Zeitlich leicht nach hinten versetzt spielt der Film – wie später Lacombe, Lucien oder Auf Wiedersehen, Kinder – jedoch nicht im Zweiten Weltkrieg, sondern setzt 1954 kurz vor Ende des Indochinakriegs ein.

Laurent wächst in großbürgerlichen Verhältnissen in Dijon auf. Er hasst seinen Vater (Daniel Gélin), einen Frauenarzt, und vergöttert seine italienische Mutter (Lea Massari), die ihn und seine zwei älteren Brüder (Fabien Ferreux, Marc Winocourt) eher wie Geschwister denn wie Kinder behandelt. Als eine Herzkrankheit Laurent ans Bett fesselt, fährt er mit seiner Mutter zur Kur. Diese nutzt die Gelegenheit, um ihren Liebhaber zu treffen und sich von Kurgästen den Hof machen zu lassen. Nach einem Fest anlässlich des Nationalfeiertags landen Mutter und Sohn reichlich betrunken schließlich gemeinsam im Bett. Anstatt mit erhobenem Zeigefinger zu moralisieren, behandelt Malle das Thema Inzest jedoch behutsam.

Dass der Regisseur auch bei anderen Themen nie den Zeigefinger erhebt, ist die große Stärke des Films. Seine Kritik am politischen System, am (französischen) Kolonialismus, an Moral und Heuchelei des Bürgertums und der Kirche transportiert Herzflimmern stets beiläufig. Auf diese Weise ist Louis Malle ein beschwingtes, vom Jazz getragenes Porträt der 1950er gelungen, in dem Geschwister den jüngeren Bruder mit dem Trinken, Rauchen und den Frauen bekannt machen und sich Eltern vor dem neuen Medium Fernsehen entblöden, während die eigenen Kinder nebenan lieber Schach spielen.
Am Ende löst sich alles im Kreise der Familie in das wohl wunderbarste Lachen der Filmgeschichte auf. Einziger Wermutstropfen: Die DVD bietet leider keine Originaltonspur und nur wenig Bonusmaterial.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/herzflimmern