Die Spielregel

Höhenflug in den Abgrund

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Es ist eine öffentlich gefeierte Sensation, als der französische Pilot André Jurieux (Roland Toutain) im Jahre 1939 noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs mit seiner Maschine nach einem 23-stündigen Flug über den Atlantischen Ozean in Paris landet, von einer begeisterten Menschenmenge empfangen. Doch der erschöpfte Flieger ist nur am Wiedersehen mit seiner Liebsten Christine (Nora Gregor) interessiert, für die er das Wagnis dieses riskanten Flugs einging und nach der er nun vergeblich Ausschau hält, bis sein Freund Octave (Jean Renoir) ihm bei der herzlichen Begrüßung mitteilt, dass sie nicht erscheinen werde. Die spontane Enttäuschung Andrés darüber verbreitet sich durch das Mikrofon einer Reporterin (Lise Elina) über das Radio durch ganz Frankreich bis in das Schlafzimmer von Christine, die mittlerweile den Marquis Robert de la Cheyniest (Marcel Dalio) geheiratet hat – ein Eklat, den André rasch bedauert und der nicht nur innerhalb der gehobenen Gesellschaft von Paris seine geschwätzigen Kreise zieht. Octave, der seit langen Jahren auch mit Christine freundschaftlich verbunden ist und sie insgeheim liebt, fädelt eine Einladung Andrés zu einer Jagdpartie auf dem Landsitz des Marquis de la Cheyniest und seiner Gattin ein, und sowohl innerhalb dieser erlauchten Sozietät als auch unter ihren umtriebigen Bediensteten entspinnen sich turbulente Wirren um Liebe und Eifersucht, die in einer komödiantischen Groteske gipfeln ...
"Was ist denn noch natürlich in dieser Zeit", bemerkt die schöne Österreicherin Christine lakonisch, die im Zentrum der männlichen Verehrung dieses Films von Jean Renoir aus dem Jahre 1939 steht, der eine bewegte Rezeptionsgeschichte mit Zensur, Verbot und schließlich Zerstörung im Zweiten Weltkrieg aufweist, bis er unter Verwendung eines aufgefundenen Negativs restauriert und ab den 1950er Jahren erneut – dieses Mal erfolgreich – mehrfach international aufgeführt wurde. Dieser Ausspruch der weiblichen Hauptfigur, der angelegentlich eines vertraulichen Gesprächs mit ihrer Zofe Lisette (Paulette Dubost) fällt, steht signifikant für die persönlichen, sozialen und moralischen Anschauungen gleichermaßen der feinen und weniger privilegierten Gesellschaft dieses Films, deren unterschwellige, unaufrichtige Regeln hier kaum Gegenwind erfahren und einen Zeitgeist repräsentieren, der von gefälligem Zynismus geprägt ist. Die beiden starken Frauencharaktere Christine und Lisette bringen mit einigem Kalkül die Männer in Wallungen, die ihrerseits mit subtilen Strategien arbeiten, um ihre Ziele zu erreichen, hinter denen der Wunsch nach Sicherheit und dauerhafter, wahrer Liebe steht, deren Bedingungen sie selbst jedoch nur allzu leicht vernachlässigen.

Die Spielregel umfasst ein vielschichtiges, schwarzweißes Szenario der unterschiedlichsten Emotionen und Haltungen, die fidel bis verzweifelt um Bindungen und Verhältnisse kreisen und im Zuge einer zügellosen Jagd symbolisch auf die Spitze getrieben werden. Nachdem die Ereignisse eskalieren und dem Schicksal eine Vielzahl von möglichen Wendungen vor allem für Christine eröffnen, ordnet die tödliche Brutalität eines Schusses den Gang der Dinge und manifestiert damit die brüchigen Konventionen für eine vage Weile im Jahre 1939. Retrospektiv betrachtet stellt der Film eine pessimistische Parabel auf die vermeintlich noble Gesellschaft der französischen Vorkriegszeit dar, deren Ausklang zwischen den Zeilen der pointierten Dialoge mitschwingt und die gerade noch ihre Fassung bewahrt. Seinerzeit vom Publikum und der Kritik als unerwünscht und demoralisierend empfunden zeichnet sich Die Spielregel heuzutage durch ihre ahnende, warnende Weitsicht aus, auch wenn Jean Renoir es nicht versäumt hat, am Ende des Films eine gewisse Ruhe herzustellen. Doch der historische Kontext des Films markiert sowohl seine damalige Aktualität wie er seine heutige Interpretation stützt, die auch jenseits von geschichtlichen Zusammenhängen ein gelungenes, prägnantes Werk beschreibt, dessen Protagonisten durch ein großartiges Ensemble verkörpert werden und dem Zuschauer einiges an nachdenklicher Anteilnahme abringen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/die-spielregel