Schrei im Morgengrauen

72 Minuten

Eine Filmkritik von Peter Osteried

Dem Firmennamen wird man mit Don Chaffeys Schrei im Morgengrauen tatsächlich gerecht. Die britische Produktion aus dem Jahr 1958 ist ein Juwel, das seinerzeit ausgesprochen kühn war: Erzählt in Echtzeit, ohne musikalische Untermalung, durch und durch authentisch.
Um zwei Uhr morgens klopft John Wilson (Richard Attenborough) bei eine Nachbarn. Er friert und braucht Hilfe bei der Reparatur seines Gasofens. Der Nachbar hilft nicht und Wilson irrt durchs Haus. Nach einer kleinen Auseinandersetzung mit Mr. Pollen zieht sich Wilson in sein Appartement zurück. Pollen ruft die Polizei, nach deren Ankunft die Situation eskaliert. Wilson verletzt einen Polizisten schwer. Die Polizei will sein Appartement stürmen, während ein Arzt hofft, Wilson zur Aufgabe überreden zu können.

Chaffey war Zeit seines Lebens vor allem für das Fernsehen aktiv, schaffte es jedoch auch, ein paar bemerkenswerte Filme vorzulegen. Phantastischere Gefilde beackerte er mit Jason und die Argonauten und Eine Million Jahre vor unserer Zeit, mit Schrei im Morgengrauen setzte er hingegen auf Minimierung. 72 Minuten Hochspannung bei einem Film, der im Grunde ein Drama ist.

Einerseits befasst er sich mit dem geistigen Zustand seines Protagonisten, andererseits konzentriert er sich über weite Strecken aufs übrige Geschehen im Wohnhaus. Tatsächlich ist das, was im Treppenhaus passiert, weit interessanter als alles, was sich in Wilsons Wohnung abspielt. Attenborough ist gut darin, den Nervenzusammenbruch seiner Figur erlebbar werden zu lassen, weit packender ist jedoch, wie Chaffey den Mikrokosmos um ihn herum gnadenlos seziert. Er betrachtet, wie aus einer Mücke ein Elefant wird, wie das Ausgrenzen eines Außenseiters zum System wird und wie alle Beteiligten sich immer mehr in die Sache hineinsteigern. Zugleich findet er aber auch Stimmen der Vernunft. Ganz plötzlich ist Schrei im Morgengrauen auch ein Diskurs darüber, was Zivilcourage wirklich bedeutet und dass Obrigkeitshörigkeit angezweifelt werden muss, wenn man sich an Unrecht nicht mitschuldig machen will.

Technisch ist Schrei im Morgengrauen exzellent. Das Echtzeitformat wird hier in ganzer Konsequenz ausgereizt. Die Entscheidung, auf Musik zu verzichten, ist eine durchaus mutige. Sie beraubt dem Filmemacher einer Möglichkeit der emotionalen Manipulation und Spannungserzeugung. Chaffey ist sich aber der Geschichte und seiner Mimen so sicher, dass er dieses Hilfsmittel nicht benötigt. Er arbeitet mit der Kraft der Geschichte, die konsequent, aber nicht reißerisch zu Ende gedacht wird.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/schrei-im-morgengrauen