Linda's Child - Unterschätze nie, wozu eine Mutter fähig ist

Eine Mörderin ohne Motiv

Eine Filmkritik von Peter Osteried

Hört man den Titel Linda's Child, dann ist man versucht, an die typischen Geschichten von Monsterkindern und Antichristen zu denken, die immer dann gerne bemüht werden, wenn originellere Geschichten nicht aufzutreiben sind. Der Originaltitel The Truth About Emanuel ist da deutlich interessanter. In ihm schwingt ein Hauch von Mysteriösem mit, und damit genau das Element, das diesen psychologischen Thriller, der allen Erwartungen zuwiderläuft, auszeichnet.
Emanuel (Kaya Scodelario) ist eine junge Frau, die sich die Schuld am Tod ihrer Mutter gibt, die bei ihrer Geburt gestorben ist. Emanuels erster Atemzug war zugleich der letzte ihrer Mutter. Das Wissen darum verfolgt sie und lässt sie nicht zur Ruhe kommen. Als im Haus nebenan die junge Mutter Linda (Jessica Biel) einzieht, spürt Emanuel etwas, das ihr bislang fremd war. Sie bietet sich als Babysitterin an, woraufhin sich eine Beziehung zwischen den beiden Frauen entwickelt, die auf dem Gefühl von Verlust aufbaut. Manchmal ist es besser, in seiner eigenen Welt zu leben, als der harschen Realität ins Auge zu blicken.

Linda's Child ist ein sehr düsterer Film, der sich mit der Frage befasst, wie man mit Verlust umgeht, aber auch mit dem Gefühl der Schuld, das damit einhergehen kann. Der Schmerz ist allgegenwärtig, die Art, wie man ihm begegnet, ist jedoch höchst individuell. Mit Emanuel und Linda werden hier die zwei Seiten einer Medaille gezeigt, aber eben nur bis zu einem gewissen Grad. Denn obwohl beide – aus ihren eigenen Gründen – in ein Zwischenreich der Illusion flüchten, um dem Schmerz zu entkommen, sind sie in ihrer Herangehensweise doch zutiefst unterschiedlich. Aber beide erleben eine emotionale Reise, die in einem den Hals zuschnürenden Finale gipfelt, in dem eine einfache Wahrheit effektiv dargeboten wird: Dass man irgendwann auch loslassen muss, da nur dann die Heilung einsetzen kann.

Francesca Gregorinis Film ist die langsam erzählte Studie eines Teenagers, in dessen Leben (fast) alles normal ist, das Bizarre aber Teil einer Erlebniswelt ist, die darauf fußt, sich die Schuld am Tod der Mutter zu geben. Wäre Emanuel ein Sportstalent oder ein Genie, dann hätte es, so erklärt sie uns am Anfang, einen Grund für ihre Existenz gegeben. Aber sie ist nur normal, und damit eine Mörderin ohne Motiv. Das ist eine schmerzhafte Sicht der Dinge, aber auch eine psychologisch interessante Herangehensweise, wie ein Mensch den Verlust rationalisiert und dennoch von Schuld überwältigt wird. Das macht es so leicht und so verführerisch, sich auf eine Illusion einzulassen, da für Emanuel Linda die Mutter ist, die sie nie gekannt hat. Sie spürt etwas, das sie zuvor nicht kannte. Beide Frauen sind füreinander Ersatz, ohne dass sie sich dessen wirklich bewusst wären. Es ist eine Freundschaft, eine Quasi-Mutter-Tochter-Beziehung, die nicht gesund, aber notwendig ist.

Die Wahrheit über Emanuel ist nicht offensichtlich, sie ist weit jenseits typischer Konventionen und bildet den Kern eines Films, der ausgesprochen langsam erzählt ist, aber zu einem Schlusspunkt findet, der noch lange nachwirkt. Ein Film über Verlust, die Leere, die er hinterlässt und wie verzweifelte Menschen versuchen, diese auszufüllen, bis sie nicht mehr können und der Realität ins Gesicht blicken müssen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/linda-s-child-unterschaetze-nie-wozu-eine-mutter-faehig-ist