Die Entfesselten

Perversion des Mannes

Eine Filmkritik von Stefan Dabrock

Wem bei Regisseur Gérard Pirès die drollig-harmlose Actionkomödie Taxi (Frankreich 1998) einfällt, liegt zwar richtig, muss aber umdenken, um auf das rabiate Selbstjustizdrama Die Entfesselten vorbereitet zu sein.
Der bürgerliche Paul Varlin (Jean-Louis Trintignant) fährt mit seiner Frau Hélène (Michéle Grellier) und der gemeinsamen Tochter Patty (Delphine Boffy) in den Urlaub. An einer Autobahnraststätte ärgert sich Varlin darüber, dass ein paar Biker seiner Frau anzügliche Bemerkungen hinterherwerfen. Nachdem er sich mit einer obszönen Geste revanchiert, beschließen die Rowdys, Varlin mitsamt Anhang auf der Autobahn zu belästigen. Die gefährlichen Fahrmanöver enden für den Familienvater schließlich im Straßengraben. Als er nach einer brutalen Abreibung durch die Biker wieder aufwacht, stellt er fest, dass Frau und Tochter vergewaltigt sowie ermordet wurden. Da die Ermittlungen keine nennenswerte Aussicht auf Erfolg haben, will Varlin das Recht selbst in die Hand nehmen. Er macht sich auf die Jagd nach den Bikern, wobei ihn seine zur Beerdigung angereiste Schwägerin Sarah (Catherine Deneuve) unterstützt.

Pirès nimmt das Anfang der 1970er Jahre populäre Bikergenre, um es für eine düstere Dekonstruktion männlicher Selbstverständnismuster zu verwenden. Der Zusammenprall zwischen Bürgertum und rebellischem Freiheitsdrang führt zu Beginn sowie im weiteren Verlauf der Handlung zu den körperlich rabiaten Szenen, die das Genre verlangt. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen werden dabei nicht für ausschweifende Brutaloorgien ausgeweidet, sondern als kurze, wuchtige Miniaturen inszeniert. Denn es geht nicht um ihren Schauwert, sondern um die Dynamik, mit der sie die oberflächliche Ordnung durchschneiden. Das gesellschaftliche Sicherheitsnetz ist binnen weniger Minuten in Fetzen gerissen, was nicht ohne Folgen bleibt.

Die amorphe Bedrohung durch die Biker, die mit ihren Helmen und gleichförmig schwarzen Klamotten wie identitätslose Boten eines pervertierten Freiheitsdranges außerhalb der Gesellschaft erscheinen, findet ihren Widerpart in der Racheperversion des bürgerlichen Widerlings. Denn Varlin entpuppt sich als fragwürdige Gestalt, der andere Menschen gerne aggressiv herunterputzt. Den persönlichen Tiefpunkt erreicht er, als er gegenüber Sarah im besoffenen Zustand zudringlich wird und sie ohne mit der Wimper zu zucken vergewaltigen würde. Männliches Rollenverhalten findet in Die Entfesselten nur noch als krisengeschüttelte Perversion statt. Der Freiheitsdrang der Biker wirkt hier ebenso jämmerlich wie der rachesuchende, wutschnaubende Bürger, der eine Ordnung verteidigen will, deren Werte er selbst nicht achtet. Mit selbstbewussten Frauen können beide ebenso wenig umgehen, wie der Kellner (Claude Brasseur) in der Autobahnraststätte, an der das Unheil begonnen hat. Er sammelt intime Geräusche von Tieren und Menschen, die ihn sexuell erregen. Seine Männlichkeit kann er nur noch in der Flucht aus direkten sozialen Zusammenhängen erleben. Pirès zeichnet ein wahrhaft desillusionierendes Bild der Männer, der gesellschaftlichen Ordnung und der ihr gegenüber existierenden Rebellion.

Deren Trümmerlandschaft findet ihren stilistischen Ausdruck in der oft aggressiv-dynamischen Kameraarbeit. Bei den dramatischen Szenen greift Kameramann Silvano Ippoliti zu schnellen Bewegungen sowie teils ungewöhnlich schrägen Blickwinkeln, die durch die Montage eine hysterische Qualität bekommen. Man wird das Gefühl nicht los, dass hier ein zunehmend aufgepeitschter Kampf um die eigene Rolle in der Gesellschaft geführt wird, dessen Verzweiflung die brutalen Ausbrüche hervorruft.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/die-entfesselten