Erpressung – Alfred Hitchcock Arthaus Close-Up

Der erste britische Tonfilm

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Nach einem unerquicklichen Abend mit ihrem Freund Frank Webber (John Longden), einem Inspektor bei Scotland Yard, flirtet die aparte Alice White (Anny Ondra) mit dem scheinbar smarten Künstler Crewe (Cyril Ritchard), der sie zu später Stunde noch in sein Atelier einlädt. Alice wagt das nächtliche, unschickliche Abenteuer, amüsiert sich und probiert sogar das hübsche Kostüm eines Modells an, doch als Crewe beim Umziehen zudringlich wird, ist es rasch aus mit dem Vergnügen. Es entwickelt sich ein deftiges Handgemenge, und in der Verzweiflung über ihre körperliche Unterlegenheit greift Alice nach einem Brotmesser, tötet den Künstler in Notwehr und irrt im Schock durch die Straßen, bis sie sich am frühen Morgen, unbemerkt von ihren Eltern (Sara Allgood, Charles Paton), in ihr Zimmer schleicht. Allerdings hat der zwielichtige Herumtreiber Tracy (Donald Calthrop) ihr Stelldichein mit Crewe beobachtet, und am nächsten Tag, als der Mord bereits in aller Munde ist, findet sich Tracy in dreister Manier im Laden der Whites ein, um Alice zu erpressen. Doch er hat nicht mit der Entschlossenheit ihres Freundes Frank gerechnet, der den Fall untersucht und zu vertuschen versucht, dass seine Liebste darin involviert ist ...
Der Krimi Erpressung aus dem Jahre 1929 von Alfred Hitchcock wurde zunächst als Stummfilm geplant und begonnen, dann aber als erster britischer Tonfilm umgestaltet, der über weite Sequenzen wie beispielsweise am Anfang und bei der Verfolgungsjagd Tracys, die im Britischen Museum endet, stumm bleibt. Die schlicht angelegte Geschichte nach dem gleichnamigen Theaterstück von Charles Bennett setzt auf eindrucksvolle Weise ein feines schwarzweißes Licht- und Schattenspiel ein, dessen Wirkung sich weitaus stärker entfaltet als jene der Dialoge und des Handlungsstrangs und wunderbar mit den inneren Befindlichkeiten der Protagonisten korrespondiert, die in dieser Form visualisiert keiner Worte bedürfen.

Das Arthaus Close-Up zur Regielegende Alfred Hitchcock präsentiert mit Erpressung, der im englischen Original mit deutschen Untertiteln vorhanden ist, Mr. und Mrs. Smith / Mr. & Mrs. Smith (1941) sowie Verdacht / Suspicion (1941) drei recht unterschiedliche, weniger bekannte Filme aus dem gigantischen Werk des Spannungsmeisters, dessen facettenreiches Schaffen hier in milder, nichtsdestotrotz unterhaltsamer wie visuell höchst anregender Ausprägung abgebildet wird. Als interessante Extras auf den DVDs sind die Stummfilmversion von Erpressung, die kurz nach dem Tonfilm erschien, sowie die Dokumentation Cary Grant – The Leading Man von Gene Feldman über einen der populärsten Schauspieler der Filmgeschichte zu sehen, was diese unspektakuläre, doch ansprechende Edition stimmig abrundet.

Betrachtet man die stark stilisierten, einfach inszenierten Charaktere von Erpressung, leben diese nicht nur in ihren Interaktionen vorrangig von ihren unausgesprochenen Hintergründen. Kleine Gesten, ausdrucksstarke Mienenspiele und sorgfältig installierte Haltungen fügen sich beim ersten Tonfilm Alfred Hitchcocks, der fortan bei diesem Genre blieb, zu signifikanten Interpunktionen im Gesamtkonzept zusammen, die sich auch in seinen späteren, stark von Dialogen geprägten Filmen noch aufspüren lassen. Als Alice White in ihrer Verzweiflung offensichtlich an Suizid denkt, deutet ein im Raum befindlicher Schatten eine Schlinge um ihren Hals an, und es sind nicht zuletzt diese markanten Filigranitäten, die die Filmkunst des Meisters auszeichnen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/erpressung-alfred-hitchcock-arthaus-close-up