Twin Peaks - Fire Walk with Me (1992)

Hinein in den Albtraum

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Anfang der 1990er Jahre, als TV-Serien meist noch nicht mit dem späteren Prestige, sondern eher mit Fließband-Unterhaltung assoziiert wurden, wirbelte der Filmemacher David Lynch mit „Twin Peaks“ die Szene mächtig auf. Während es damals in Fernseh-Krimis üblicherweise um die formelhafte Ermittlung eines Verbrechens ging, und dem Publikum in Primetime-Soaps gezeigt wurde, wie in melodramatischer Manier geliebt, gehasst und intrigiert wird, verbanden Lynch und sein Co-Autor Mark Frost die Crime- und die Seifenoper-Bausteine zu einer abgründigen Kleinstadtstudie, angereichert mit surrealen Elementen.

Im (vermeintlichen) Zentrum der Serie stand die Frage: Wer hat Laura Palmer ermordet? Die Schülerin, verkörpert von Sheryl Lee, wird zu Beginn tot aufgefunden – und der FBI-Agent Dale Cooper (Kyle MacLachlan) soll den Fall lösen. Die Suche nach dem Täter fand bereits im Laufe der zweiten (und bis zur überraschenden Rückkehr der Serie im Jahre 2017 zunächst finalen) Staffel ihr Ende; wichtiger waren allerdings die bizarren Situationen, mit denen sich Cooper in der titelgebenden Provinz konfrontiert sieht, sowie die komplexen Figuren und deren Geheimnisse.

1992 folgte dann mit Twin Peaks – Fire Walk with Me ein Prequel in Form eines Kinofilms. Geschildert werden darin die letzten sieben Tage in Lauras Leben. Ehe wir jedoch das bekannte „Welcome to Twin Peaks“-Schild erblicken und das vertraute musikalische Thema ertönt, begleiten wir in den ersten 30 Minuten den Agenten Chester Desmond (Chris Isaak), der im Auftrag seines Vorgesetzten Gordon Cole (gespielt von Lynch selbst) in Zusammenarbeit mit seinem Assistenten Sam Stanley (Kiefer Sutherland) den Mord an der Jugendlichen Teresa Banks (Pamela Gidley) untersucht.

Eine Sequenz in diesem ersten Akt ist besonders bemerkenswert: Den beiden Ermittlern wird gewissermaßen als Briefing der Tanz einer Frau präsentiert. Stanley ist völlig irritiert, doch Desmond meint: „Das kann ich Ihnen erklären.“ Jedes Detail der Darbietung wird von dem Bundespolizisten decodiert; alles hat eine klare Bedeutung, die sich problemlos mitteilen lässt. Nur die blaue Rose, die zur Ausstattung der Tänzerin gehört, bleibt ein Geheimnis. Darüber dürfe er nicht sprechen, so Desmond.

Dies kann als Anleitung für die Rezeption des Films – vielleicht sogar jedes Lynch-Werks – begriffen werden. Für die meisten anfangs äußerst befremdlich anmutenden Dinge lässt sich durch konzentriertes Hinschauen und durch intensives Nachdenken eine schlüssige Interpretation finden. Nur ein paar Nuancen sollen ganz bewusst als Rätsel bestehen, bei denen uns der Regisseur eine exakte Antwort verweigert. Und das ist auch gut so.

Die erste halbe Stunde mit Desmond und Stanley steckt voller schwarzem Humor und Skurrilitäten, etwa wenn das Duo die örtliche Polizeistelle aufsucht und dort auf Widerstand stößt oder wenn die beiden in einem Diner und in einer Wohnwagensiedlung Leute befragen. Auch Agent Cooper kommt später zum Einsatz – unter anderem in einer virtuosen Passage mit David Bowie in einer Gastrolle. Zum emotionalen Kern wird indes die Hintergrundgeschichte von Laura. Dass die größten Grässlichkeiten hinter strahlend weißen Vorgartenzäunen in schicken Häusern lauern, mag inzwischen beinahe zum Klischee verkommen sein. Lynch setzt dieses verfaulte Schein-Idyll hingegen derart treffend und böse in Szene, dass Fire Walk with Me zu einer seiner einnehmendsten Arbeiten gezählt werden muss.

In ihrem Zimmer mit blassrosa Wänden und Blümchen-Bettwäsche schaut Laura auf ein Gemälde, das ihr auf der Straße in die Hand gedrückt wurde. Die darin zu sehende Tür wird schließlich zu einer echten Tür, die zur nächsten Tür und letztlich in einen Albtraum führt, in dem sich Laura wiederum ohnehin längst befindet. Der Film erzählt von Missbrauch und von der Unmöglichkeit eines Umgangs damit. Er beutet sein ernsthaftes Sujet nicht für billige Spannung aus, sondern zeigt auf stimmige Weise, wie traumatische Erlebnisse vergraben werden – bis der Moment erreicht ist, an dem eine Verdrängung nicht mehr funktioniert.

Neben Ray Wise als Lauras Vater und einer hervorragenden Besetzung aus Charakterköpfen wie Frank Silva und Harry Dean Stanton, ist vor allem Moira Kelly als Lauras beste Freundin Donna Hayward (in der Serie verkörpert von Lara Flynn Boyle) eine Sensation. Die enge Bindung der zwei Schülerinnen nimmt bereits die ambivalente und zugleich symbiotische Beziehung der beiden weiblichen Hauptfiguren aus Mulholland Drive (2001) vorweg. In der Interaktion zwischen Laura und Donna, die davon geprägt ist, dass Donna der zunehmend selbstzerstörerisch agierenden Laura vergeblich zu helfen versucht, wird deutlich, dass mitten im surrealen Grauen sehr wahrhaftig von Gefühlen erzählt werden kann. Dass hinter Lynchs kniffligen Mysterien ein Herz schlägt, unterscheidet ihn bis heute von einem Großteil seiner Nachahmer:innen, die nur auf stilisierte Verstörung setzen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/twin-peaks-der-film