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Eine Liebesgeschichte

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Das Gespräch, das hier zwischen Mutter und Tochter unterwegs im Auto stattfindet und anfangs aus dem Off ertönt, ohne die Gesichter zu zeigen, stellt einen unbeholfenen Abschied dar. Die 16jährige Sabine (Jana Pallaske) soll künftig bei ihrem Vater (Andreas Hoppe) in Berlin leben, wohl auf Wunsch ihrer Mutter (Susanne Sachse), dann haben wir alle unsere Ruhe". Offensichtlich gestaltete sich das Zusammenleben der Teenager-Tochter mit dem Lebensgefährten der Mutter allzu unerquicklich, so dass Sabine nun den tapferen Rückzug zum Vater antritt, der in einer recht räudigen Hochhaussiedlung lebt. Bereits die Einganssequenz des Spielfilmdebüts von Esther Gronenbaum deutet die enorme Kluft zwischen den Welten der Jugendlichen und Erwachsenen an, die der Film auch in seinem weiteren Verlauf bestätigt: Hier gibt es kaum nennenswerte Beziehungen, ebenso wenig bedeutsame Begegnungen und schon gar kein Vertrauensverhältnis.
Es sind die Heranwachsenden in ihrem scheinbar losgelösten Universum der Identitätsfindung, die im Fokus von alaska.de stehen, von unerfahrenen Laiendarstellern verkörpert. Auf diese Weise beabsichtigte Regisseurin und Drehbuchautorin Esther Gronenborn, das Milieu der Berliner Vorstädte und ihre jungen Bewohner so authentisch wie möglich abzubilden, was zweifellos gelang – gleichermaßen schnörkellos und doch mit differenzierter Ausdrucksfähigkeit spielen die engagierten Akteure auf, deren Rollen noch teilweise während der Dreharbeiten spontan ausgestaltet wurden. Gewalt unter Jugendlichen ist das große Thema dieses starken Debüts, das im Verlauf seiner geschickt konzipierten Dramaturgie anhand einer realitätsnahen, fiktiven Geschichte die Entstehungsbedingungen von eskalierender Gewalt skizziert, wobei die Befindlichkeiten und Motivationen der Protagonisten im Vordergrund der Betrachtungen stehen.

Darauf beharrend, das letzte Stück auf ihrer Reise zum Vater ohne die Mutter zurückzulegen, trifft Sabine mit ihrem gelben Koffer und einem unhandlichen Stadtplan am Rande des weitläufigen Plattenbau-Territoriums ein und begegnet sogleich dem etwa gleichaltrigen Eddi (Frank Droese), der sie zunächst widerstrebend zur gesuchten Andy-Warhol-Straße bringt. Eddi gehört zu einer Clique um den bereits straffällig gewordenen Micha (Toni Blume), der gerade aus dem Jugendknast entlassen wurde und bei seiner Freundin Coco (Nele Steffen) lebt. Zwischen Sabine und Eddi wird bald eine Freundschaft sowie eine zarte Liebe entstehen, allerdings kräftig überschattet von den Ereignissen um die Leiche eines Jungen, der mit einem Messer im Rücken endet und nach dessen Mörder nun die Polizei fahndet. Sabine, die unmittelbar nach der Tat am Ort des Geschehens vorbeikommt, sieht gerade noch, wie Micha davonläuft ...

In dem sichtbaren Bemühen, allzu mit den gängigen Klischees behaftete Darstellungen zu vermeiden, gelingt es alaska.de mit derbem Charme, die lebenshungrige Atmosphäre einer sich selbst überlassenen, unter wenig förderlichen Umständen heranwachsenden Jugend einfühlsam nachzuzeichnen, die zwar überwiegend noch verhältnismäßig brav erscheint, nichtsdestotrotz aber permanent nur einen schmalen Grat von der Eskalation zur Katastrophe entfernt ist, die sich hier letztlich ihren Weg bahnt. Dass es ausgerechnet eine sympathische, nicht gerade dafür prädestinierte Figur ist, die schließlich einen Menschen tötet, verleiht dem Film eine brisante Tragik, die das simple Schema von Schuld und Verantwortung um eine ebenso anspruchsvolle wie bewegende und zutiefst humanistische Dimension erweitert, wobei die Unwiederbringlichkeit des Todes allerdings ein wenig bagatellisiert wird und Trauer keinen Raum erhält.

Auf einigen internationalen Filmfestivals wurde alaska.de gezeigt und ausgezeichnet, darüber hinaus unter anderem mit dem Bayerischen Filmpreis und zweifach mit dem Deutschen Filmpreis in Gold für die hervorragenden Leistungen der Regie und des Schnitts prämiert. Esther Gronenborn, die zuvor neben einigen Kurzfilmen zahlreiche Videoclips realisierte, hat hier einen deutschen Jugendfilm der seltenen Sorte inszeniert, der eine spannende, sozialkritische Geschichte mit niveauvoller künstlerischer Gestaltung kombiniert und seine dichten Stimmungen durch einen ansprechenden Soundtrack und vor allem anhand einer intensiven Bildsprache transportiert. Der ungewöhnliche Titel referiert auf eine Szene des Films, innerhalb welcher Eddi Sabine einen Tipp zur Orientierung in der neuen Umgebung gibt, die von mächtigen Rohren durchzogen ist – wie die Pipelines in Alaska. Doch letztlich ist es nicht die örtliche Orientierung, die diesen Jugendlichen fehlt. "Eine Liebesgeschichte" lautet der Untertitel, der beharrlich genau das behauptet, was alaska.de eben auch ist und seine krude Qualität durchaus abzumildern versteht.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/alaska-de