Mahlzeiten

Erste Akzente des neuen deutschen Films

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Sein Spielfilmdebüt aus dem Jahre 1966 hat der Filmemacher Edgar Reitz in Schwarzweiß gehalten. Die Kamera von Thomas Mauch kreiert abwechslungsreiche Bilder, mal nahe ins Detail vertieft, dann wieder großzügig und ausführlich aus der Distanz, überwiegend mit komfortabler Langsamkeit, punktuell auch überraschend beschleunigt. Diese raffinierte Visualität ist gegen die gängigen Sehgewohnheiten konzipiert, ringt dem Zuschauer eine geduldige Aufmerksamkeit ab, lädt zum Verweilen in scheinbar banalen Sequenzen ein, mal verträumt, dann wieder verstörend innerhalb der romantischen Geschichte eines Liebespaares, das sich im Alltag zu verlieren beginnt, um letztlich tragisch zu scheitern, von dokumentarisch und zynisch anmutenden Kommentaren aus dem Off begleitet. Mahlzeiten gehört zu den ersten Filmen, deren Regiearbeiten vom "Kuratorium junger deutscher Film" gefördert wurden – eine konkrete Konsequenz aus den Forderungen des Oberhausener Manifests zur Erneuerung der Filmkultur, das Edgar Reitz gemeinsam mit 25 weiteren Filmschaffenden am 28. Februar 1962 im Rahmen der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen unterzeichnet und der Öffentlichkeit präsentiert hat.
In Hamburg begegnen sich Elisabeth (Heidi Stroh) und Rolf (Georg Hauke), als die Fotoschülerin Aufnahmen auf einem Werftgelände macht, mit dem Kopf unter dem Tuch der antiquierten Kamera. Schließlich spazieren sie fort, Rolf trägt das Gerät, Elisabeth an seiner Seite, die sie kaum mehr verlässt – selbst seinen Studienalltag in der medizinischen Fakultät begleitet die fröhliche junge Frau, interessiert an allem, was ihren Liebsten beschäftigt. Ausflüge mit dem Motorrad in die Natur, verspielte Zärtlichkeiten, Sex, Schwangerschaft, Hochzeit – aus dem Liebespaar wird eine Familie, die Kinder kommen in rascher Folge, Rolf gibt sein Studium auf, verliert sich dann plötzlich in vagen Verzweiflungen, flieht, kehrt zurück, flieht erneut, während Elisabeth ihr Glück mit den Kindern und in intellektuellen Geselligkeiten findet, schließlich in religiösen Gefilden. Noch ist Rolf dabei, doch er driftet zunehmend in Schwäche und Isolation, unfähig, sich in Elisabeths Glückskonzept zu integrieren, bis der Freitod im Wald lauert ...

Da sitzen die kleinen Kinder auf dem Boden und essen, unter sich, konzentriert auf die Sättigung ihrer schlichten Speise – die wohl markanteste Mahlzeit dieses immer wieder befremdlichen Films, der schleichend das Unausgesprochene und Unfassbare als Elend evoziert. Edgar Reitz, der vor Mahlzeiten zahlreiche experimentelle und Kurzfilme inszeniert hat, treibt hier die Werte der bürgerlichen Partnerschaft und Familie schmerzhaft auf die Spitze, bricht sie ab und endet mit einer versöhnlichen, hoffnungsfrohen Milde, die geradezu gespenstisch wirkt – das ist starker Stoff in sanftem Gewand, der seinerzeit die ersten Akzente des neuen deutschen Films setzte.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/mahlzeiten