Paris gehört uns

Jacques Rivette debütiert

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Als die Literaturstudentin Anne (Betty Schneider) gerade in Vorbereitung für eine Prüfung englische Verse intoniert, wird sie durch das verängstigt-verstörte Verhalten ihrer Zimmernachbarin aufgeschreckt, die in kryptischer Manier von einer Verschwörung fabuliert. Anne bemüht sich, die verwirrte junge Frau zu beruhigen, verspürt aber ein wachsendes Unbehagen, als diese auch Annes Bruder Pierre (François Maistre) in diesem Zusammenhang erwähnt, der ebenfalls in Paris lebt. Bald darauf verabredet sich Anne mit Pierre und erzählt ihm von diesem Erlebnis, das er lapidar abtut, und als Anne ihren Bruder daraufhin zur Party seines Freundes inmitten eines Kreises exzentrischer Intellektueller und Künstler begleitet, wo erregt über den Freitod des jungen Komponisten Juan debattiert wird, markiert dies den Beginn einer surrealistisch anmutenden Odyssee der Studentin durch den urbanen Raum und eine konspirative Gruppe undurchsichtig erscheinender Protagonisten, die sich offensichtlich von einer faschistischen Organisation bedroht fühlen. Dabei lernt sie auch den idealistischen Theatermacher Gérard Lenz (Giani Esposito) kennen, der gerade mit einer kleinen Truppe Shakespeares Perikles einstudiert und ihr eine Rolle anbietet, den traumatisiert wirkenden Amerikaner Philip Kaufman (Daniel Crohem) sowie dessen eiskalte Landsmännin Terry Yordan (Françoise Prévost), von der es heißt, dass sie für Juans Tod verantwortlich sei. Mehr und mehr verstrickt sich Anne in ein Geflecht von widersprüchlichen Emotionen und vehementen Verstörungen, und als schließlich noch Gérard Lenz tot aufgefunden wird und Pierre verschwindet, balanciert sie am Rande einer gewaltigen Konfusion ...
Ebenso effektvoll wie undurchdringlich gestaltet sich das Spielfilmdebüt des Nouvelle Vague Theoretikers und Praktikers Jacques Rivette, der hier bereits einige Elemente seiner nicht selten schwergängigen Filmkunst erprobt. Paris gehört uns verzichtet darauf, seine vielschichtigen politischen, philosophischen und theologischen Anspielungen näher auszuführen oder gar aufzuklären, sondern stürzt den Zuschauer in ein unheilschwangeres Konglomerat aus bedrohlichen Ankündigungen, deren Konsistenz konsequent in zwielichtiger Unschärfe verbleibt. Entwickelt sich die Tendenz einer Lichtung, wird diese bald darauf wieder beschattet, was auch mit der formalen Bildsprache kongruiert, deren Schwarzweißimpressionen eine krude Intensität erschaffen. Die Sequenz "Babel" aus Fritz Langs Metropolis ist zu Gast, deren Menschengewimmel einen krassen Gegensatz zu den öde erscheinenden Stadtszenarien von Paris bildet, die Anna zuvor durchstreift hatte. Kleine Kniffe und grandiose Gestaltungen kompensieren hier die kargen Konstellationen der langwierigen Dreharbeiten, die von Jacques Rivette und seiner Crew immer wieder kuriose Improvisationen verlangten.

Dass Paris gehört uns seinerzeit kommerziell durchfiel, erstaunt nicht; allzu unwegsam und fragmentarisch kommt der Film daher, der filmhistorisch mittlerweile einen bedeutenden Rang innerhalb der Nouvelle Vague inne hat. Der Regisseur selbst sowie Jean-Luc Godard und Claude Chabrol sind als Schauspieler in kleinen Auftritten zu sehen, was sich wiederum in die an Zitaten und Reminiszenzen reiche Konzeption des Films einfügt. Im Vorspann erscheint ein Wort des französischen Schriftstellers Charles Péguy: „Paris n’appartient à personne – Paris gehört niemandem“, was Jacques Rivette als Verfechter der Politik der Autoren mit der Titelwahl für seinen ersten äußerst beeindruckenden Spielfilm geradezu trotzig erwidert.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/paris-gehort-uns