Unmoralische Geschichten (Special Edition)

Viermal Sex

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Beim verdienstvollen DVD-Label Bildstörung ist der 1923 geborene und 2006 gestorbene polnische Regisseur Walerian Borowczik kein Unbekannter. Vor einiger Zeit erfreute die exquisite und schon vielfach gelobte DVD-Edition "Drop Out" mit Die Bestie / La Bête aus dem Jahre 1974, nun folgt mit Borowcziks Unmoralische Geschichten eine weitere Veröffentlichung des Filmemachers, der wie kaum ein anderer Regisseur seiner Zeit die Grenzen des Zeigbaren und der Erotik auf der Leinwand auslotete.
Mit dem nun neu veröffentlichten Film Unmoralische Geschichten / Contes immoraux gelang Borowczyk, der nach einer Ausbildung zum Maler und Grafiker über den Trickfilm zur Regie gekommen und der bereits in den frühen 1960er Jahren nach Frankreich emigriert war, der endgültige Durchbruch, 1974 stand der Film auf Rang 2 der Kinojahresbestenliste. Dieser Höhenflug sollte aber nur kurz andauern, bevor sich der Filmemacher ab den 1980ern eher mühsam mit Auftragsarbeiten wie Emmanuelle V (1987) und Fernsehproduktionen über Wasser hielt. Für einen vielfach ausgezeichneten Filmemacher wie ihn, der immerhin den Großen Preis der Berlinale 1971 (für seinen Film Blanche) gewonnen hatte, dürfte dies ein eher unrühmliches Ende seiner Laufbahn gewesen sein. Umso schöner, dass dieser begnadete Außenseiter des europäischen Kinos nun mit der zweiten und abermals sehr gelungenen Veröffentlichung eines seiner besten Filme zumindest so etwas wie eine posthume Huldigung erfährt.

Wie der Titel bereits andeutet, ist Borowczyks Werk ein Episodenfilm, der genau genommen aus vier Einzelfilmen besteht, die allesamt in unterschiedlichen Jahrhunderten angesiedelt sind. Der gemeinsame Nenner besteht darin, dass sich jeder der Geschichten einer anderen sexuellen Spielart widmet – und zwar vor allem jenen, die als verboten, pervers oder widernatürlich galten. Zu Beginn des Filmes gibt ein Zitat von Madame la Rochefoucauld die Richtung vor: "So wunderbar die Liebe ist, gefällt sie noch mehr durch die Arten, wie sie sich zu erkennen gibt." (L'amour, tout agréable qu'il est, plaît encore plus par les manières dont il se montre que par lui-même). Wobei das, was die Sexualmoral der frühen 1970er der sexuellen Revolution zum Trotz als pervers oder andersartig empfand (unter anderem Fellatio in Die Gezeiten und weibliche Masturbation in Die philosophische Thérèse), heutzutage wohl eher bis auf wenige Ausnahmen für ein Schmunzeln sorgen dürfte. In Zeiten des Internets, in denen jede auch nur denkbare (oder undenkbare) Sexualpraktik nur einen Mausklick entfernt ist, wirken Borowczyks Episoden nicht allein aufgrund ihrer ruhigen und allenfalls softerotischen Darstellungsweise heute kaum noch schockierend, aber teilweise immer noch traumhaft schön.

Der Titel nimmt übrigens Bezug auf Eric Rohmers zwischen 1962 und 1972 entstandenen "Zyklus der sechs moralischen Geschichten" Contes moraux, die unter anderem Filme wie Claires Knie / Le genou de Claire (1970) und Liebe am Nachmittag / L’amour l’après-midi (1972) umfasssten. Ursprünglich sollten auch die Unmoralischen Geschichten Borowczyks aus sechs Teilen bestehen. Dann aber entschloss sich der Filmemacher, den fünften Teil seines Films mit dem Titel Une collection particulière von dem übrigen Werk abzukoppeln, dieser gelangte bereits 1973 zur Aufführung und bildet eine Art dokumentarisch-essayistisches Prolog zu den fiktiven Unmoralischen Geschichten. Der sechste Teil La véritable historie de la bête du Gévaudan wurde ebenfalls ausgegliedert und bildete 1975 die Traumsequenz in Die Bestie. In der limitierten Sonderedition, die Bildstörung neben der normalen DVD-Fassung ebenfalls anbietet, gibt es unter anderem eine rekonstruierte Version der ursprünglich geplanten Kinofassung zu sehen, die unter anderem auch jene Sequenz von Die Bestie enthält, die ursprünglich für Unmoralische Geschichten vorgesehen war.

Sorgfältig zusammengestellt nimmt sich auch das Bonusmaterial zu diesem Film aus, das ebenso wie das informative Booklet mit einem Essay von David Bird kaum einen Wunsch offen lässt. Und über die gewohnt hohen technischen Qualitäten muss man bei den Veröffentlichungen von Bildstörung sowieso gottlob nie ein Wort verlieren.

Ein feines Sammlerstück also, das irgendwo zwischen Pasolinis tolldreiste Geschichten / I racconti di Canterbury (1972) und der Emmanuelle-Reihe den schmalen Grat zwischen Arthouse und Softcore definiert, der niemals wieder solche schönen Blüten hervorbringen sollte wie in diesem Fall.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/unmoralische-geschichten-special-edition