Atalante

Jean Vigos filigrane Filmkunst

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Der Zug der ernsthaften Hochzeitsgäste, der sich von der Kirche hinunter Richtung Wasser bewegt und vor einem Frachtkahn zum Stehen kommt, könnte ohne weiteres auch eine Trauergesellschaft sein, wären da nicht das voranmarschierende Brautpaar Juliette (Dita Parlo) und Jean (Jean Dasté) sowie ein paar zaghafte Akkordeonklänge. So sehr sich auch die kleine Crew des Kahns – der kauzige Père Jules (Michel Simon) sowie ein fröhlicher Schiffsjunge – im Vorfeld um feierliche Heiterkeit bemüht, springt dieser Funke doch nicht über, und es wird abgesehen von den knapp aufkeimenden Klagen der Brautmutter ein trister, emotionsarmer Abschied, als die frisch Vermählten mit dem Mast an Bord geschwenkt werden. Während der Bräutigam und Kapitän der L’Atalante freudig aufbricht, platziert sich die Braut einer würdigen Gallionsfigur gleich auf dem Frachter, der von nun an ihr Zuhause sein wird – eines der einprägsamen, wunderschönen Bilder dieser ebenso schlichten wie bewegenden Liebesgeschichte von Jean Vigo.
Es sind lediglich vier Werke, die der französische Filmemacher Jean Vigo (1905-1934) während seines jungen Lebens realisiert hat, darunter drei Kurzfilme, und Atalante aus dem Jahre 1934 stellt seinen einzigen langen Spielfilm dar, der seinerzeit zudem nur wenig Beachtung fand. Umso bemerkenswerter nimmt sich die posthume filmhistorische Bedeutung und Würdigung dieses Regisseurs aus, nach dem der Prix Jean Vigo benannt ist, der seit 1951 vorrangig jungen Regietalenten unabhängigen Geistes und originellen Stils verliehen wird. Insbesondere Protagonisten der Nouvelle Vague wie François Truffaut zeigten sich von seiner Filmkunst beeindruckt, und es ist zuvorderst der Initiative Henri Langlois’ von der Cinémathèque Française zu verdanken, dass der zuvor reichlich verunstaltete Film Atalante Ende der 1940er Jahre anhand von noch vorhandenem Material der Produktion erstmalig rekonstruiert wurde. Die vorliegende Fassung, so ist eingangs zu lesen, orientiert sich so eng wie möglich an der ursprünglichen, von Jean Vigo intendierten, der während der beschwerlichen Dreharbeiten bereits schwer unter Tuberkulose litt, woran er bald darauf starb.

Das Leben an Bord! Während der Frachter sich in Richtung Paris bewegt, erlebt das Paar seine Hochzeitsnacht, macht sich in den Dingen des Alltags und der Liebe miteinander vertraut und herrscht über die der neuen „Chefin“ äußerst wohlgesinnte kleine Mannschaft, innerhalb welcher Père Jules als alter Seebär widerborstig brilliert. Dann ist es so weit: Die L’Atalante legt am Ufer der Seine endlich in Paris an, dem Ziel der herrlichsten Träume Juliettes, die es kaum erwarten kann, fein herausgeputzt die Metropole zu erkunden. Doch nun nimmt die Geschichte mit einem Streit der jungen Eheleute ihre tragische Wendung: Während Juliette sich auf eigene Faust durch Paris treiben lässt, gibt der gekränkte Kapitän Jean Befehl zum Ablegen, und der Kahn verlässt die Stadt ...

Es sind grandiose, nicht selten auch durch das Gebaren der Darsteller an Stummfilme erinnernde Bilder in Schwarzweiß, die flankiert von der stilvollen Musik Maurice Jauberts eine geradezu klassische Liebesgeschichte im französischen Frachtschifffahrtsmilieu der 1930er Jahre visualisieren: Hochzeit, Euphorie, Alltag, erste Streitigkeiten, Eifersucht, Bruch, Kummer, Wiedersehen und letztlich Versöhnung. Hier vereint sich filigrane Filmkunst mit der zauberhaften Spielfreude der Akteure, die Jean Vigo überwiegend aus seinem Freundeskreis zusammenfand. Kleine Kuriositäten wie die Souvenir-Sammlung von Père Jules – eloquent wie engagiert verkörpert vom gelegentlich wild improvisierenden Michel Simon (Die Hündin / La chienne, 1931, Das Scheusal / La poison, 1951, Es geschah am hellichten Tag, 1958) – sowie schlichte Sentimentalitäten transportieren einen mitunter magisch anmutenden Realismus, der Atalante zu einem in vielerlei Hinsicht berührenden Werk werden lässt, das längst seinen bedeutenden Platz innerhalb der Filmgeschichte eingenommen hat.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/atalante