Berlin Chamissoplatz (1980)

Eine schlichte Liebesgeschichte

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Einmal fährt er seinen alten weißen Saab in der Nacht nahe an ihre Wohnung unweit des Chamissoplatzes in Kreuzberg, übernachtet im Wagen und kauft am Morgen ein luxuriöses Frühstück ein, um sie zu überraschen. Ein anderes Mal steigt er in der Dunkelheit auf das Dach des Nachbarhauses, um mit roter Farbe eine Liebeserklärung für seine Angebetete an die Wand vor ihrem Fenster zu sprühen: Der Berliner Architket Martin (Hanns Zischler) hat sich nach zwei gescheiterten Ehen nunmehr mit über Vierzig in die junge Soziologiestudentin und politische Aktivistin Anna (Sabine Bach) verliebt.

Kennen gelernt haben die beiden sich bei einem von Anna und ihren Mitstreitern organisierten Event auf dem Chamissokiez, wo die günstigen Wohungen der alten Häuser von Sanierung oder Abriss bedroht sind. Nach einem Interview mit Anna zeigt sich der lässige Architekt durchaus bereit, die engagierten Bewohner rund um den Chamissoplatz mit Information und Beratung zu unterstützen. So beginnt eine zarte Liebesgeschichte im sozialpolitischen Ambiente des Berlins der frühen 1980er Jahre von Rudolf Thome, der damals selbst in der Gegend um den Chamissoplatz gewohnt hat.

Berlin Chamissoplatz erscheint als ein leiser, mit stimmungsvoller Musik angereicherter Film, der die Menschen in ihrem Alltag und Milieu zeigt – die Nachbarschaft auf dem Kiez, die Gruppe meist junger Aktivisten, die für die Erhaltung ihrer Wohnumgebung kämpft, das Leben des Architekten rund um Arbeit, Familie, stylische Jazz-Musik und immer wieder Rotwein. Räudig schön singt Hanns Zischler als Martin seiner Anna – übrigens auch realiter – selbst komponierte Lieder vor, und auch zum Abendessen und anderen Aktionen mit ihren Freunden begleitet er sie, bemüht, sich gelassen und selbstverständlich in ihrer Welt zu bewegen.

Naturalistisch und geradezu banal muten die Figuren des Films und ihre Gespräche bei Zeiten an, als seien Rudolf Thome und sein Kameramann Martin Schäfer Beobachter, nicht Initiatoren des Geschehens. Neben der beinahe dokumentarisch anmutenden Alltäglichkeit gibt es jedoch auch Momente der heraufbeschworenen Intensität und Intimität der Zweisamkeit des extrem unterschiedlichen Paares, wie etwa im Morgengrauen an der italienischen Küste bei einem Kurzurlaub oder beim Baden am Wannsee, wobei das für Rudolf Thome charakteristische Wasser-Thema repräsentiert wird.

Als Film im Film, den sich das Paar im Kino anschaut, erscheint Jacques Rivettes Céline und Julie fahren Boot / Céline et Julie vont en bateau; während Anna zu Tränen gerührt ist, hält Martin gerade ein Nickerchen. Doch trotz des Auseinanderklaffens ihrer Interessen und Lebenssituation ereignet sich ihre Beziehung gemächlich und konfliktarm – bis zum Schluss. Und es ist das offene, ein wenig abrupt gestaltete Ende, das noch einmal eine ganz andere Perspektive auf Berlin Chamissoplatz eröffnet, dessen Qualitäten als schlichter Liebesfilm, stimmungsvoll verortet in seinem Milieu und seiner Zeit, sich so langsam wie sanft und unspektakulär erschließen.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/berlin-chamissoplatz