Theater in Trance

Vom Unvermögen, das Leben in Besitz zu nehmen

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Vor beinahe dreißig Jahren fand auf dem Territorium des Theaters die Premiere eines ganz besonderen Festivals statt: Am 12. Juni 1981 wurde in Köln erstmalig das mittlerweile renommierte Event "Theater der Welt" eröffnet, initiiert vom Deutschen Zentrum des Internationalen Theaterinstituts. Dieses international besetzte Spektakel der darstellenden Künste wartete bei seiner Premiere bereits mit Stars auf, deren Talente heute als geradezu legendär gelten: Die US-amerikanische Performance-Künstlerin Laurie Anderson, ihr Kollege Robert Wilson, ebenfalls aus New York, mit seinem Stück "The Man in the Raincoat", der Kölner Circus Roncalli mit der "Reise zum Regenbogen", die tanzenden Derwisches des Istanbuler Mevlevi Ensembles und das Wuppertaler Tanztheater mit Stücken der charismatischen Pina Bausch – unter einigen anderen Größen der auch auf geistiger Ebene anspruchsvollen Körperkunst. Und kein Geringerer als der großartige deutsche Filme- und Theatermacher Rainer Werner Fassbinder, einst Mitbegründer und Autor des avantgardistischen "antiteaters" in München, hat diese Veranstaltung aufmerksam begleitet und unter dem Titel Theater in Trance dokumentiert.
Die Dokumentation über die Premiere des Theaters der Welt, die Rainer Werner Fassbinder dem engagierten wie innovativen Theater-Experten Ivan Nagel als einem der Initiatoren gewidmet hat, gliedert sich in vierzehn Teile: Während der erste Teil den Empfang der Ehrengäste zur Eröffnung der Veranstaltung beinhaltet, präsentieren die folgenden jeweils die Performance ausgewählter Ensembles aus den über hundert Vorstellungen, wobei der Eindruck entsteht, dass sich der Regisseur dabei bewusst auf die politisch orientierten sowie insgesamt weniger populistischen Beiträge des Festivals konzentriert hat. Dass Fassbinders Anspruch weit über eine schlichte, gefällige Präsentation dieses Events hinausweist, verdeutlicht bereits der Auftakt der Dokumentation: Beim Empfang der Ehrengäste folgt die Kamera konsequent den Kellnern, die mit Getränken zu den elektronischen Klängen der Band Kraftwerk durch die illustre Gesellschaft flanieren, ohne dass die prominenten Persönlichkeiten direkt fokussiert werden. Dieser geradezu spitzbübisch anmutende Einstieg erzeugt eine unverkrampfte, direktive Atmosphäre, die sich in der ungewöhnlich reichhaltigen, weiteren Präsentation ungehemmt fortsetzt.

Während auf den Bühnen des Theaters der Welt von 1981 unter anderem die Auftritte des Amsterdamer Het Werhtheaters, des New Yorker Squat Theaters, der mexikanischen "Sombrad Blancas" sowie des Wuppertaler Tanztheaters der Pina Bausch eingefangen werden, intoniert Rainer Werner Fassbinder Ausschnitte aus dem Werk Das Theater und sein Double / Le théâtre et son double des legendären Theaterrevolutionärs Antonin Artaud (1896-1948). Es ist diese Verbindung von erfrischenden, damals so aktuellen wie innovativen Stücken künstlerischer Ensembles mit sozialpolitischer Brisanz in Kombination mit den verstörenden, provokanten Texten einer massiven Kritik am herkömmlichen Theater, die ein oftmals von Brüchen bewegtes, höchst eindrucksvolles Bild von der Vielfalt, Ungezähmheit und Bedeutung der darstellerischen Kreativität entwirft. Hier geht es um einen widerspenstigen Kulturbegriff, der Kunst im Sinne Antonin Artauds im Gegensatz zur von Aristoteles formulierten Mimesis nicht als Nachahmung der Wirklichkeit versteht, sondern als eine Realität für sich, mit der Verortung der Kultur als sich konkret ereignender Aktion und nicht als lebensfernes Konzept.

Theater in Trance, der auf dem Filmfestival Mannheim uraufgeführt wurde und im Rahmen der Berlinale 1982 gezeigt wurde, wo Rainer Werner Fassbinders Die Sehnsucht der Veronika Voss mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde, stellt ein komplexes, zutiefst berührendes Zeugnis eines so poetischen wie politischen Theater-Events dar, dessen kraftvolle Darstellung von der Begleitung der eindrucksvollen Textfragmente getragen wird. Neben den Auszügen von Antonin Artaud erscheint eine Text-Passage zum Tod von Ulrike Meinhof sowie lyrische Sequenzen der US-amerikansichen Dichterin Sylvia Plath. Die Wucht dieser Worte ist es, die den dargestellten Auftritten eine schwelende, weit über den künstlerischen Aspekt hinausragende Dimension verleiht, die Theater in Trance zu einer zeitgeschichtlich bedeutsamen, ungeheuer intensiven und bewegend wirkungsvollen Dokumentation werden lässt, die den Zuschauer energisch dazu auffordert, das "Unvermögen, das Leben in Besitz zu nehmen", abzustreifen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/theater-in-trance