Jonas (1957)

Angst und Verlorenheit im Nachkriegsdeutschland

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Die junge Bundesrepublik Deutschland Mitte der 1950er Jahre: Innerhalb der ambivalenten Atmosphäre zwischen unbewältigten Traumata der Nachkriegszeit, Wiederbewaffnung und Wirtschaftswunder lebt der Fabrikarbeiter Jonas (Robert Graf) zur Untermiete in einem kleinen Zimmer in Stuttgart. In seiner Freizeit vagabundiert der stille Einzelgänger ziellos durch die Straßen der Großstadt, von flüchtigen Impulsen und vor allem seiner inneren Stimme begleitet und getrieben, welche die Banalitäten seiner Erlebniswelt mit Fragmenten gesellschaftlicher Slogans vermischt. Als Jonas beschließt, einen guten Teil seines Wochenlohns in einen Hut zu investieren, begegnet er bei dieser Gelegenheit der jungen Verkäuferin Nanni (Elisabeth Bohaty). Doch bereits kurz darauf wird ihm die neue, imposante Kopfbedeckung in einem Restaurant gestohlen, woraufhin Jonas seinerseits dort einen Hut mitgehen lässt, der die Initialen M. S. aufweist – dieselben eines alten Freundes aus Kriegstagen, dem gegenüber Jonas eine quälende Schuld empfindet. Diese augenscheinliche Zufälligkeit löst peinigende posttraumatische Prozesse bei dem wachsend verwirrten Mann aus, der für eine kleine Weile Zuflucht in der Nähe zur ebenfalls unsagbar einsam erscheinenden Nanni empfindet, mit der er nach einem Wiedersehen durch die abendliche Stadt streift. Doch die junge Frau ist bald überfordert mit der konfusen Befindlichkeit ihres Begleiters, dessen verdrängte Ängste so allmählich wie unaufhaltsam in sein sich zersetzendes Bewusstsein drängen ...
Jonas des deutschen Filmemachers, Kunstsammlers und Psychiaters Ottomar Domnick (1907-1989) aus dem Jahre 1957 ist in seiner künstlerischen Schwarzweißinszenierung ein absolut außergewöhnlicher, zutiefst aufwühlender Film über einen zunächst unauffälligen, menschenscheuen Mann, der sich längst so weit wie möglich vom sozialen Territorium zurückgezogen hat. Diese verlorene Kreatur, die flankiert von der grandiosen Musik Duke Ellingtons und Winfried Zilligs in der zunehmend als feindlich empfundenen Anonymität des urbanen Raumes unterwegs ist, spiegelt die oberflächlich überspielte Zerrissenheit einer Gesellschaft der Verdrängung wider, die ihre Sehnsucht nach kultureller Identität in die sich eröffnenden Kanäle eines überschaubaren Konsumverhaltens umleitet.

Neben den wenigen, kargen Dialogen, die explizit ausschließlich zwischen Jonas und Nanni stattfinden, ist es vorrangig das isolierte Gedankenuniversum des tristen Helden, das die Dramaturgie von Jonas dominiert und den stetig anwachsenden Abgrund zwischen seinem inneren Erleben und der so bezeichneten äußeren Realität manifestiert, die rasch bemüht ist, sich von derartig verstörten und verstörenden Individuen energisch abzugrenzen, wie hier die Polizei als Repräsentantin der Staatsmacht verdeutlicht. Die komplexen Kommentare dieser inneren Stimme, die durch ihre vielschichtigen, immer wieder aufs Neue variierten sprachlichen Konstruktionen bestechen, die in kreisläufigen Assoziationen gefangen sind, stammen aus der Feder Hans Magnus Enzensbergers, der auf diese Weise meisterhaft am Drehbuch mitwirkte.

Bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin 1957 für den Goldenen Bären nominiert sowie mit dem Filmband in Silber in den Kategorien Beste Kamera und Beste Musik ausgezeichnet stellt Jonas eine durch und durch unorthodoxe, provokante und dabei deutlich humanistisch orientierte filmische Perle dar. Der Film erscheint innerhalb der Edition Momente des deutschen Films, die von der Filmredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zusammengestellt wurde. Über die gesellschaftskritische Relevanz seiner Entstehungszeit hinaus ist dieses Werk mit seinen eindrucksvollen, künstlerisch gestalteten Bildern der Kamera Andor von Barsys ein temporär ungebundenes, ungezähmtes Stück über die Macht der traumatisierenden menschlichen Trostlosigkeit, die sich nach innen gewandt aus Mangel an Erleichterung selbstzerstörerisch der Verzweiflung anempfiehlt. Das offene Ende weist darauf hin, dass sich auch unter diesen Umständen durchaus ein mehr oder weniger funktionelles Dasein fristen lässt, das allerdings nur mit zynischem Unterton als Leben bezeichnet werden kann.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/jonas-1957