The War Zone

Familienkrieg

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Ein alter Bunker an der windzerzausten und herbstlich düsteren Küste der britischen Grafschaft Devon wird zum Symbol eines Krieges, bei dem es keine Sieger gibt, nur Opfer. Am Anfang und am Ende des düsteren Dramas The War Zone von Tim Roth sehen wir dieses beeindruckende Gebäude, dessen schwarze Massivität es wie einen Monolithen, einen Fremdkörper in der zerklüfteten Küstenlandschaft wirken lässt. Und wüsste man am Ende dieses Films nicht, was sich in den dazwischenliegenden 100 Minuten zugetragen hat, käme man beinahe auf den Gedanken, dass dieser Bunker tatsächlich dazu geeignet sei, als Schutzraum vor den Gefahren des Krieges, um den es hier geht, zu dienen. Doch es gibt Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten, gegen die hilft kein Stahl und kein Beton. Denn im Krieg in der Familie, um den es hier geht, werden keine Gefangenen gemacht – nur verwundete Seelen.
Dabei beginnt der Film durchaus verhalten optimistisch: Die Eltern (Tilda Swinton, Ray Winstone) des 15-jährigen Tom (Freddie Cunliffe) und seiner älteren Schwester Jessie (Lara Belmont) erwarten noch einmal Nachwuchs. Auf der Fahrt zum Krankenhaus verunglückt die Familie und kommt mit dem Schrecken sowie einigen kleineren Blessuren davon. Als die kleine Schwester Alice geboren wird, scheint alles wieder in Ordnung zu sein. Dennoch macht die Atmosphäre und das Verhalten der Akteure untereinander schnell deutlich, dass mit dieser Familie etwas nicht stimmt. Und es ist ausgerechnet der schweigsame, verpickelte und als schwierig geltende Tom, der eine Ahnung davon bekommt, was hier aus dem Lot geraten ist. Als er von einem Einkauf nachhause zurückkehrt, beobachtet er durch ein Fenster, wie sich sein Vater seiner Schwester nähert. Als Tom seine Schwester mit dem Gesehenen konfrontiert, streitet diese alles ab.

Doch mit der Zeit verdichten sich die Indizien für einen sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie, Tom findet Polaroidaufnahmen seiner Schwester mit ihrem Vater, abermals streitet Jessie ab, dass an den Anschuldigungen ihres pubertierenden und noch jungfräulichen Bruders etwas dran sei. Schließlich wird der Verdacht zu grausigen Gewissheit, als der Junge Zeuge wird, wie sein Vater seine Schwester in dem alten Bunker an der Küste vergewaltigt. Trotzdem wagt er es immer noch nicht, sich mit seinem schrecklichen Verdacht an seine Mutter zu wenden. Erst als die kleine Alice krank wird und ins Krankenhaus muss, wo Tom zufällig mitbekommt, dass das Baby aus dem Unterleib blutet, bricht die Mauer des Schweigens und der Scham zusammen. Eindringlich warnt er seine verblüffte Mutter davor, ihrem Mann das Baby anzuvertrauen. Zuhause angekommen konfrontiert Tom seinen Vater mit den Vorwürfen; die folgende Auseinandersetzung eskaliert und endet tödlich...

Selten war England in einem Film so dunkel und so verregnet wie hier, die Sonne schafft es während des gesamten Films kein einziges Mal, einen auch nur scheinbaren Lichtschimmer in die Düsternis der Hoffnungslosigkeit zu zaubern. Dabei sind es beileibe keine metereologischen Klischees über das Inselklima, die The War Zone hier verbreitet, sondern sinnvolle und stimmige Chiffren für Inzest und Missbrauch, wie man sie bislang noch in keinem Film sah. Statt auf psychologisch aufgeladene Dialoge vertraut die Regie vor allem auf die durchweg exzellenten Schauspieler, auf imposante Bilder und auf eine Vielzahl von Andeutungen, die sich ähnlich wie Toms Verdacht erst im Lauf des Films zur schrecklichen Gewissheit verdichten.

Tim Roth, in den 1990ern vor allem als Schauspieler in Filmen wie Reservoir Dogs, Pulp Fiction, sowie Rosenkranz und Güldenstern und vielen anderen mehr bekannt geworden, hat mit diesem Film, der zugleich sein Regiedebüt ist, einen der beeindruckendsten und verstörendsten Filme zu dieser Thematik, gedreht. Beinahe unmerklich verrückt er die Perspektiven, drängt den Täter an den Rand der Erzählung, unterlässt jede Dämonisierung und evoziert stattdessen mit hoher Kunstfertigkeit einen Film, der – selten genug bei Themen wie diesen – dem Zuschauer vertraut und Platz lässt für eigene Empfindungen. The War Zone erklärt und beschönigt nichts, hütet sich vor psychologischen Erklärungsmustern und lässt stattdessen die Bilder und die Gesichter seiner Darsteller für sich sprechen. Die ganze Bandbreite der Tragödie, und darin zeigt sich die ganze Meisterschaft dieses Films, wird niemals deutlich ausgestellt, sondern zeigt sich vor allem zwischen den Bildern und in dem Ungesagten, nicht Ausgesprochenen, im Verschwiegenen. Umso bedauerlicher, dass die zugegebenermaßen grandiose Filmmusik von Simon Boswell nicht immer genauso zurückhaltend agiert. Was dem Film und seiner nachhaltigen Wirkung aber dennoch keinen Schaden zufügt. Vielleicht ist dies ja ein Zugeständnis an all jene Zuschauer, die dann doch mehr "geführt" werden wollen – angesichts von Themen wie diesen ist solch ein Wunsch durchaus verständlich.

Wenn man genau hinsieht und hinhört, dann offenbart sich hinter der auf den ersten Blick schroffen und abweisenden Oberfläche ein Werk von spröder, verstörender Schönheit und emotionaler Wucht, wie man es nur selten sieht und garantiert nie wieder vergisst

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/the-war-zone