Das Opferlamm

Bildnis einer bewegenden argentinischen Familiengeschichte

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Als in Argentinien während der Militärdiktatur in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre Tausende von Menschen als politische Gegner der Regierung inhaftiert und teilweise sogar ermordet wurden sowie ungefähr 30.000 Personen – so genannte Desaparecidos – schlichtweg spurlos verschwanden, flüchteten einige vom Staatsterror Verfolgte und deren Angehörige außer Landes, um Freiheitsentzug, Folter oder gar dem sicheren Tod zu entgehen. Die junge argentinische Regisseurin Lucía Cedrón, die bereits mit ihrem Debüt-Kurzfilm En ausencia / In Abwesenheit auf sich aufmerksam machte, der bei der Berlinale 2003 als Bester Kurzfilm mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, hat sich mit ihrem ersten Spielfilm Das Opferlamm, der 2008 beim International Film Festival Rotterdam seine Premiere feierte, eines Themas aus diesem schrecklichen historischen Komplex ihrer Heimat angenommen.
Als der 77jährige Arturo (Jorge Marrale) während der schwerlastigen Wirtschaftskrise in Argentinien zu Beginn des Jahres 2002 in Buenos Aires mit seinem Wagen eine Unterführung passiert, wird er von ein paar brutalen Gestalten zum Halten und Umsteigen in ein anderes Auto gezwungen, das kurzerhand mit dem alten Mann davonrast. Bald darauf erhält seine Enkelin Guillermina (Leonora Balcarce) einen Anruf der Entführer, die eine stattliche Summe für die Freilassung ihres Großvaters fordern. Die Zusammenhänge mit der Militärdiktatur der 1970er Jahre kommen ins Spiel, als Guillermina ihre Mutter Teresa (Mercedes Morán), die seit etlichen Jahren in Paris lebt, um Unterstützung bittet. Schweren Herzens kehrt Teresa nach Buenos Aires zurück, um ihrer Tochter bei der Organisation des Lösegeldes zu helfen, und gleich bei ihrer Ankunft wird deutlich, dass sich die Beziehung der beiden Frauen untereinander recht problematisch gestaltet. Im Verlauf ihres Beisammenseins und der gemeinsamen Sorge um Arturo muss Guillermina erkennen, dass ihr bedeutsame Aspekte der Familiengeschichte bisher verborgen geblieben sind, denn in den bedrückenden, repressiven Zeiten der damaligen Militärdiktatur ist ihre Mutter selbst einmal das Opfer einer Entführung durch die Polizei geworden ...

Das Opferlamm wurde erst kürzlich in vier Kategorien mit dem argentinischen Filmpreis Cóndor de Plata ausgezeichnet, und zwar für das Beste Spielfilmdebüt, das Beste Drehbuch, den Besten männlichen Hauptdarsteller sowie die Beste weibliche Nebendarstellerin. Zweifellos beschäftigt sich der Film mit einem prekären Territorium von großer gesellschaftspolitischer Bedeutsamkeit und transportiert auch in einigen Momenten die bedrohliche Stimmung der Zeiten des diktatorischen Terrors, von dem in Rückblicken erzählt wird, doch vorrangig erscheint Das Opferlamm als ganz private Familiengeschichte. Hier geht es um die Frage, inwieweit eine Tochter das Recht hat, auch über die Schatten einer traumatisierenden Vergangenheit aufgeklärt zu werden, und inwiefern eine Mutter das Ihrige, diese vor derart belastenden Geheimnissen zu bewahren. Regisseurin Lucía Cedrón, die auch das Drehbuch mit verfasste, hat sich für eine sehr sanft erscheinende Verarbeitung der historischen Aspekte entschieden, die mitunter jedoch allzu blass erscheinen. Es ist die Komponente der Versöhnlichkeit innerhalb der Familie, auf welcher der Schwerpunkt der Dramaturgie liegt, die in ein schlichtes, doch wahrhaft berührendes Finale mündet. Auch wenn es mitunter nicht einfach ist, einen andauernden emotionalen Bezug zu diesem Film aufrechtzuerhalten, wirkt Das Opferlamm auch nach seinem Ende noch lange nach, trotz oder gerade wegen der Ratlosigkeit, die den Zuschauer immer wieder einmal befällt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/das-opferlamm