Est-Ouest – Eine Liebe in Russland

Verhängnisvoller Verrat

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Diese französisch-russische Koproduktion von 1999 unter der Regie von Régis Wargnier beschäftigt sich mit einem finsteren Aspekt der Geschichte der Sowjetunion, dessen Hintergründe in das Revolutionsjahr 1917 zurückreichen. Während dieser sowohl innen- als auch außenpolitisch äußerst unruhigen Zeiten im Ersten Weltkrieg verließen etliche Russen ihr Land, die überwiegend in das europäische Ausland flohen, um sich dort eine gesicherte Existenz zu schaffen. Bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verfolgte Diktator Josef Stalin im Zuge einer Propaganda-Aktion das Ziel, einige dieser Flüchtlinge mit dem Versprechen der Straffreiheit und der Aussicht auf ein gutes Leben in der alten Heimat für die Sowjetunion zurückzugewinnen. Est-Ouest – Eine Liebe in Russland / Est-Ouest erzählt vor diesem historischen Szenario die Geschichte einer kleinen Familie, die auf diese Weise nach Russland gelangt und dort in eine grausame Kette von Ereignissen gerät, die für jeden Einzelnen sowie für alle zusammen bedrohliche Ausmaße annimmt.
1946 im Hafen von Odessa in der Sowjetunion: Auf einem gerade eingetroffenen Schiff wird die Ankunft einer Gruppe von russischen Heimkehrern gefeiert, die sich dazu enschlossen haben, am Aufbau eines neuen kommunistischen Staates jenseits der Schatten des Zweiten Weltkriegs mitzuwirken. Die Stimmung ist euphorisch, heiter und sentimental zugleich, während mit hohen Parteifunktionären getrunken, gesungen und gefeiert wird. Unter den Russen aus Frankreich befindet sich auch der Arzt Alexei (Oleg Menchikov), der mit seiner französischen Frau Marie (Sandrine Bonnaire) und seinem Sohn Seryozha (Ruben Tapiero, als Jugendlicher Erwan Baynaud) anreist, um zu bleiben und seine idealistischen Vorstellungen von einer modernen sowjetischen Gesellschaft zu verwirklichen.

Doch bereits kurz nach dem Verlassen des Schiffs, kaum dass die optimistischen, brüderlichen Trinksprüche verhallt sind, enthüllt sich mit traumatisierender Brutalität die tatsächliche Realität: Rüde werden die Angekommenen, die gerade noch schmeichlerisch begrüßt wurden, in Gruppen aufgeteilt, und als der junge, erwachsene Sohn eines Russen dennoch zu seinem Vater zurückläuft, von dem er getrennt werden soll, wird er kurzerhand vor den Augen aller erschossen, die nun eingeschüchtert den Anweisungen der Stalinisten Folge leisten. Auch Alexei wird kurzfristig von Marie getrennt, die in einem Verhör der Spionage verdächtigt und geschlagen wird, doch schließlich wird das Paar zusammen mit dem Sohn in einem Zimmer einer schrägen, streng überwachten Hausgemeinschaft untergebracht und Alexei beginnt seine Arbeit als Mediziner. Für Marie hat damit ein Alptraum eingesetzt, der sie mehr als ein Mal gnadenlos an die Grenze ihrer Kräfte drängen wird und der ihre ganze Familie über Jahre hinweg peinigen wird. Doch in der Verbindung zu dem jungen, aufrichtigen Sasha (Sergej Bodrow Jr.), einem Leistungsschwimmer, der an die Freiheit glaubt, erlebt Marie einen Verbündeten, dem nicht bei den ersten Schwierigkeiten der Mut destilliert, und damit wird der Jugendliche zum ganz großen Hoffnungsträger gegen die Bollwerke der Bespitzelung unf für die Chance auf Freiheit.

Es ist vorrangig das Phänomen des Verrats, das in unterschiedlichen Variationen im Zentrum von Est-Ouest – Eine Liebe in Russland steht, Verrat an den eigenen persönlichen und politischen Grundhaltungen, Verrat an der Liebe und der Freundschaft sowie Verrat als gesellschaftliche Grundkonstante. Der Film wurde im Jahre 2000 als Bester fremdsprachiger Film für einen Oscar, für einen Golden Globe und für einige weitere Auszeichnungen nominiert und hat auch ein paar Trophäen auf Filmfestivals gewonnen, wie etwa den Publikumspreis beim Miami Film Festiaval. Die Dramaturgie ist bei leichten Präzisionsschwächen spannend, eindringlich und vor allem dicht gestaltet, bannt den Zuschauer mit einer Fülle an schwer erträglichen Geschehnissen an das schlimme, ungewisse Schicksal der Arzt-Familie und setzt vor allem auf eine starke Identifikation mit der Französin Marie, die in der unerwarteten, fremden Hölle auch noch von ihrem Mann so bitter verraten wird – ein mitreißender, streckenweise ein wenig zu pathetisch und stereotyp geratener Stoff, der aber gegen Ende noch einmal an dramatischer Fahrt zulegt und gleichzeitig damit versöhnlich Ambivalenzen installiert. Allerdings wird der intensiv teilnehmende Zuschauer am Schluss aufatmend doch ein wenig enttäuscht, da ihm nähere Angaben über den weiteren Lebensweg der so lang begleiteten Figuren verwehrt bleiben, die er sich unbedingt positiv gewünscht hat.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/est-ouest-eine-liebe-in-russland