Alice in den Städten (1974)

Die Reise zu sich selbst

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Filme sind in erster Linie bewegte Bilder - "moving pictures" eben. Und vielleicht ist genau das der Grund, warum Filme immer wieder dem Faszinosum der Bewegung und der Reise erliegen. Am augenfälligsten wird diese immanente Bewegung des Films und mit ihm die Bewegung der Figuren, deren Geschichten er erzählt, im Road Movie. Und kaum ein deutscher Regisseur beherrscht dieses Genre so meisterhaft wie Wim Wenders, der mit Paris, Texas wohl die bewegendste Abhandlung über das Unterwegssein und die Suche nach sich selbst gedreht hat. Wenders’ Beschäftigung mit diesem Thema reicht allerdings bis in die früheste Phase seines filmischen Schaffens hinein, und in seinem Film Alice in den Städten deutet sich bereits vieles an, was in späteren Filmen wie Im Laufe der Zeit oder Paris, Texas immer wieder leitmotivisch auftauchen wird – Suchbewegungen und Reisen zu sich selbst.

Eigentlich hatte der junge Journalist Philipp Winter (Rüdiger Vogler) ja den Auftrag, eine Reisereportage durch die USA zu schreiben, doch er bringt einfach keine Zeile zustande. Abgestoßen von dem, was er sieht, hat er es nur geschafft einen Stapel Polaroids anzufertigen, und selbst das ist in seiner desolaten psychischen Lage bereits ein Wunder, denn wie er seiner Freundin Edda (Edda Köchl) gesteht, ist ihm während seiner Reise das Hören und Sehen abhanden gekommen – er hat sich selbst verloren. Frustriert entschließt er sich zur Rückkehr nach Deutschland, verkauft seinen Wagen und ersteht ein One-Way-Ticket in die Heimat. Auf dem Flughafen trifft Winter auf Lisa van Damm (Lisa Kreuzer) und ihre Tochter Alice (Yella Rottländer), die beide ebenfalls nach Deutschland zurückkehren wollen. Doch nach einer Nacht im Hotel, den das Trio wegen eines Streiks aufsucht, ist Lisa verschwunden und hat Alice allein zurückgelassen. Zunächst widerwillig macht sich Winter mit dem kleinen Mädchen auf die Reise nach Amsterdam, wo die Mutter ihre Tochter wieder in Empfang nehmen will. Als Lisa dort allerdings nicht auftaucht, macht sich der Reporter mit dem Mädchen auf die Suche nach der Großmutter. Es beginnt eine Odyssee, in deren Verlauf Winter den Mut am Leben und Schreiben wieder zurückgewinnen wird.

Trotz der Schwere des Themas und der depressiven Stimmung, in der sich Wim Wenders Protagonist in Alice in den Städten befindet, versinkt der Film zu keinem Zeitpunkt in Selbstmitleid, sondern bewahrt sich Poesie, Wahrhaftigkeit, und (Mit-)Menschlichkeit. In einer Welt, die vor allem von gescheiterten Beziehungen, Entfremdung und einem Nebeneinander statt einem Miteinander geprägt ist, birgt die anrührende Freundschaft zwischen Alice und ihrem Begleiter einen Hoffnungsschimmer, der Trost und Mut spendet. An Präsenz und Kraft haben die Bilder auch nach mehr als 30 Jahren noch nicht verloren – und das trotz oder gerade wegen ihrem Verzicht auf jede Farbigkeit. Ein reifes und kluges Werk von Wim Wenders, das auch heute noch seine Gültigkeit besitzt.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/alice-in-den-stadten-arthaus-collection