Ediths Tagebuch

Die große Traurigkeit der kleinen privaten Hölle

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Es ist ein Arthouse-Klassiker der frühen 1980er Jahre, den Regisseur Hans W. Geißendörfer nach einem Roman von Patricia Highsmith inszeniert hat. Ediths Tagebuch erzählt zum einen die Geschichte einer feinfühligen Frau, die an der Härte ihres trostlosen Lebens zerbricht, zum anderen spiegelt er beinahe erschreckend realistisch Dimensionen der erwachsenen und mittlerweile etablierten 68er-Vertreter, die sich ein Jahrzehnt später mit ihren eigenen rebellischen Kindern sowie mit der Hilfsbedürftigkeit der alternden Elterngeneration auseinander setzen müssen. Der Film stammt aus der erfolgreichen Geißendörfer Film- und Fernsehproduktion, die der Regisseur 1982 gegründet hat, um mit größtmöglicher Freiheit inhaltsorientiert Stoffe entwickeln und produzieren zu können.
Edith Baumeister (Angela Winkler) bezieht mit ihrem Mann Paul (Vadim Glowna) und ihrem jugendlichen Sohn Chris (Leopold von Verschuer) im Berlin der späten siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein geräumiges Haus, das Symbol für ihren bürgerlichen Wohlstand ist. Doch ein gutes Leben hat Edith, die sich nach wie vor politisch engagiert, nicht, denn das Verhältnis zu ihrem halbwüchsigen Sohn, den sie in bester Absicht „antiautoritär“ erzogen hat, ist permanent kräftezehrend angespannt. Chris ist ein schwer zugänglicher Einzelgänger, der seine Familie mit bösartigen Streichen und Wutausbrüchen tyrannisiert, denen seine Eltern mit lapidarer, geradezu ignoranter Nachsicht begegnen. Bald zieht noch Pauls Onkel Georg (Hans Madin), der eigentlich nur die Weihnachtsferien bei seinen Verwandten verbringen sollte, in die wenig traute Villa ein, und es ist Edith, die den herrischen alten Mann, der seine Tage mit Kriegsspielzeug in verklärten Erinnerungen verbringt, rund um die Uhr versorgen muss.

Die Filmerzählung gibt dem Zuschauer zu Beginn nur eine knappe Weile, bis er begreift, dass die augenscheinliche Idylle keine ist, und darauf findet er sich in der Spirale wieder, die sich direkt und unweigerlich auf den Abgrund zu bewegt. Neben der dargestellten Handlung schwebt mit sanfter Stimme vorgetragen der Text von Edtihs Tagebuch durch die Geschichte, in dem die ebenso verträumte wie verzweifelte Frau ein Paralleluniversum erschafft. Dort, in dem Leben, wie Edith es sich wünscht, ist die Familienwelt in Ordnung, Chris entwickelt sich angemessen und erfolgreich, während er in der Realität versagt, dem Alkohol verfällt und seiner Mutter mit Abscheu begegnet. Dass es am Ende der Blick in eben dieses Tagebuch ist, der die Haltung des gemeingefährlichen Sohnes verändert, steigert die Tragik der Geschichte, denn die Verschrobenheit Ediths ist mittlerweile sozial so auffällig geworden, dass sie in die Psychiatrie eingewiesen werden soll.

Die Eskalationen und Charaktere in Ediths Tagebuch erreichen eine Intensität, die den Film trotz einfacher, geradliniger Handlung zu einem fesselnden Drama mit präzisem, kritischem gesellschaftlichem Blick geraten lassen. Angela Winkler verkörpert die sich der Alltagswelt zunehmend entfremdende Edith grauenhaft glaubhaft, und auch Vadim Glowna brilliert als zwar verständnisvoller und hilfsbereiter, doch dann wieder rücksichtslos egoistischer Ehemann, der schließlich seine Frau verlässt und klassischerweise die Affäre mit seiner Sekretärin in eine Beziehung umwandelt. Dem jungen Leopold von Verschuer sprüht der Hass auf seine Familie und seine gefühllos anmutende Bösartigkeit geradezu aus den Augen, und mehr als einmal fühlt man sich bei diesem hingebungsvollen Spiel an den frühen Kinski erinnert, dessen Kompromisslosigkeit einigen ambitionierten Darstellern dieser Zeit ein Vorbild gewesen sein mag.

Die realitätsnahe Inszenierung der Geschichte wird von häufiger Präsenz der Fernsehnachrichten unterstrichen, die von sozialpolitischen Krisen und Katastrophen Ende der siebziger Jahre berichten, während sich im Hause der Baumeisters die ganz private kleine Hölle abspielt. Zu lachen gibt es kaum etwas in diesem tieftraurigen Film; allenfalls als Chris mit Onkel Georgs Gewehr dem weihnachtlichen Braten auf dem gedeckten Tisch ein paar Ladungen Schrot verpasst, reizt die Absurdität zum Schmunzeln. Doch die tragische Unbeirrbarkeit Ediths, mit der sie sich und ihre geistige Gesundheit opfert, um an ihren Traumvorstellungen festzuhalten, bestürzt den Zuschauer so heftig, dass er sich der deprimierenden Atmosphäre des Films auch nach seinem Ende nicht sofort entziehen kann. Wer jedoch einen fiktiv konstruierten, psychologischen und kritischen Blick hinter die Fassade einer gut situierten Familie jener Zeiten werfen will, der ist mit Ediths Tagebuch bestens beraten.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/ediths-tagebuch