Edipo Re

Sopohokles modern

Eine Filmkritik von Jean Lüdeke

Was sich bis heute im Allgemeinwissen über Pier Paolo Pasolini konservieren konnte, ist der Ruf des Ultra-Skandalösen. Die Auseinandersetzung mit den Werten des Christentums zieht sich wie ein roter Faden durch Pasolinis Filme. Anders als ihr Ruf sind sie jedoch nicht antireligiös, sondern reiben sich an der Institutionalisierung des Glaubens durch Kirche, Staat und Massen.
Edipo Re: das ist die modernisierte und transzendierte Adaption der Sophokles-Tragödie Ödipus schlechthin. Der tötet unwissend seinen leiblichen Vater, um seine Mutter zu ehelichen und zerstört sein eigenes Leben durch die Suche nach seinen wirklichen Eltern. Pasolini transportierte diese antike griechische Erzählung in eine archaische nordafrikanische Landschaft und aktualisierte sie. Das dramatische Werk setzt in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts ein. Der von seinen wahren Eltern als Baby ausgesetzte Ödipus (Franco Citti) beobachtet, wie Laos, ein faschistischer italienischer Offizier, und dessen elegante Gattin Iocaste (Silvana Mangano) an einem Ball teilnehmen. Da Ödipus zur Kaste der Handwerker und Bauern gehört, erhält der Film einen marxistischen Ansatz, bei dem sich das Proletariat gegen die Bourgeoisie auflehnt. "Edipo Re ist Pasolinis poetische Auseinandersetzung mit dem Mythos, mit Jung, Freud und dem kollektiven Unbewußten. Es ist ebenfalls ein Film über das Erkennen der eigenen Persönlichkeit und der Wahrnehmung der Wirklichkeit als eine Gefahr, die einen blendet und am wahren Sehen hindert", analysierte Daniela Darimont von der Universität Freiburg 1998.

Pasolini eignet sich die Sophokles-Tragödie an, um neue mythische und archaische Bilder zu erfinden. Für den Dreh in Marokko verwendete er bizarre und befremdliche Gewänder, Kopfbedeckungen, Masken, Waffen und Schmuck; eine für damalige verhältnisse fantastische Synthese aus Aztekischem, Sumerischem, Schwarz-Afrikanischem und Vorantik-Griechischem, angesiedelt im hitzflimmernden Wüstenpanorama einer archaischen Zeit. Von Sophokles ist dabei nur der Handlungsrahmen und kein Text übernommen worden, um die antike Tragödie in das Geschehen der zeitlos-archaischen Realität der Bauern und Handwerker des unterentwickelten italienischen Südens zu transferieren, gleichzeitig aber auch damit den "Ur-Stoff" als klassenkämpferisches Filmmanifest zu verbrämen.

Kein Zweifel, das Produkt ist ein mehr als sehenswertes und diskussionswürdiges Experiment, das Pier Paolo Pasolinis Ruf als Film-Avantgardisten nur zu klar belegt. Was Edipo Re im besonderen Maße prekär und akut gestaltete waren die Parabeln und Metaphern auf das faschistoide Vorkriegsitalien sowie die 1967 europaweit entfachten Studentenrevolten.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/edipo-re