Blind & Hässlich (2017)

Eine filmische Sensation

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Blind & hässlich ist eine Wucht. Jakob Lass hatte 2013 mit Love Steaks gezeigt, welche Energie in einem Mumblecorefilm stecken kann; alle Förderpreise des Münchner Filmfests gingen an diesen Film. Sein Bruder Tom Lass schafft nun einen Film von ähnlicher Energie, in dem die Figuren radikal aufeinanderprallen, in dem sich das Leben selbst spiegelt, in dem das Abstruse alltäglich ist, in dem sich jeder wiederfinden kann.

Naomi Achternbusch, Tochter des großen, fast vergessenen Meisters der wahrhaftigen Groteske, überzeugt vollkommen in ihrer ersten Hauptrolle. Sie spielt Jona, ein junges rebellisches Mädchen, das vor der Mutter zur Kusine flieht. Kurz vor dem Abi, was die Lebensplanung schwieriger macht, Jona aber nur noch mehr anstachelt. Erstmal muss eine Wohnung her, die Kusine ist blind, im Wohnheim ist ein Zimmer frei. Also spielt Jona die Blinde, vollkommen überzeugend, und das ist so eine absurde Situation, dass man sie einfach glauben muss. Zumal der Film sich selbst als absurd darstellt. In der Eingangsszene tauchen Axel Ranisch und Karin Hanczewski als gutherzige Polizisten auf, wie man im Film noch nie Polizisten gesehen hat. Später werden Jakob Lass mit seinem Love Steaks-Star Lana Cooper in Cameorollen beratschlagen, wie denn nun ein Blindenhund repariert werden könnte: Vielleicht das Vorderteil austauschen, auch wenn das dann eine andere Farbe hätte?

Tom Lass ist der zweite Hauptdarsteller. Er spielt Ferdi, der bärtig, verdreckt und komplett fertig durch den Wald tapst. Auf einem Bauernhof nimmt er allen Mut zusammen: Willst du mit mir gehen, krächzt er die Bäuerin an. Später klaut er Eier, als Strafe bekommt er eine Möhre tief in den Rachen gestopft. Er will nicht, dass andere ihn ansehen, Selbsthass und Menschenscheu sind seine ständigen Begleiter. Derartige Charaktere hat Tom Lass schon immer gespielt, ob in Nico Sommers Stiller Frühling oder in den eigenen Filmen Papa Gold und Kaptn Oskar: gehemmte Typen mit großen Ideen und großen Plänen, was Frauen angeht – die dann aber doch den Schwanz einziehen, weil sie nie gelernt haben, mit Menschen umzugehen. Und die dann hineingeworfen werden ins kalte Wasser des Miteinanders.

So geht es hier auch Ferdi, den es in der Stadt in ein betreutes Wohnprojekt der Kaputtniks verschlagen hat und der mit Menschen überhaupt nicht umgehen kann. Der auf der Brücke steht, bereit zum Sprung, und den dann Jona aufliest. Jona, die Blinde, die nicht blind ist. Das darf Ferdi nicht wissen. Denn er kann sich auf die, die ihn nicht ansieht, einlassen. Eine tolle Konstellation, die in jedem anderen Kontext blödsinnig wäre. Die aber hier bestens funktioniert, nur so kann eine solch starke Liebesgeschichte funktionieren: Indem die Fallhöhe künstlich dermaßen überhöht wird, dass sie ganz anders und ganz neu zu berühren vermag, als es in der gewöhnlichen RomCom der Fall ist.

Tom Lass lässt improvisieren. Das ist seine Art, Filme zu machen: Eine Story zu füllen mit der Lebendigkeit des Spontanen, und das den Zuschauer auch spüren zu lassen. Beim Stegreifspiel geht es nicht um Realismus, sonst könnte er nicht aus den Dialogen in radikalen Jump Cuts alles Unwichtige und Überflüssige rausschneiden. Nein, es geht um die Geschichte und um die Lust, sie zu erzählen, mit den Mitteln des Alltäglichen, um sie herauszuheben von der Normalität. Robert Gwisdek – ein weiterer dieser vielen, vielen Cameos – spielt einen Augenarzt, der eigentlich nicht wissen darf, dass Jona nicht blind ist, und das so real inmitten des Absurden, dass es eine Lust ist. Ferdi hat hinreißende Sitzungen bei seiner Therapeutin Eva Löbau; Jona wird Brustkrebstesterin bei der Frauenärztin, als Blinde mit besonderem Gefühl im Tasten ist sie dafür prädestiniert. Verkackt es aber wegen Unsensibilität: "Brustkrebs. Rechts."

Und dann wird alles furchtbar dramatisch. Denn Ferdi hat einen alten Kumpel, ein rabiater Musikclubbetreiber, der hineinfunkt in jedes Leben, weil es ihm Spaß macht, alles zu zerstören. Auf der anderen Seite des Figurenspektrums: Ein hinreißender Hausmeister im Blindenwohnheim, der seine Autorität vor lauter Sanftheit völlig vergisst, um schließlich diesem Pärchen vollkommen zu verfallen.

Nicht anders wie der Filmzuschauer, der jede Unwahrscheinlichkeit, jeden Blödsinn dieses Filmes schluckt, weil alles im Dienst der großen, wahrhaftigen, überwältigenden Suche nach dem Liebesglück steht.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/blind-haesslich-2017