Von Werra

Der Kriegsheld und sein Darsteller

Ein Stoff, aus dem das Kino ist: Franz von Werra, Sohn verarmter Walliser Aristokraten, wird als Kleinkind zusammen mit seiner Schwester Emma von einem kinderlosen deutschen Baron adoptiert - gerüchteweise verkauft. Bruder und Schwester werden in Deutschland standesgemäß erzogen, bis auch der Adoptivvater sein Vermögen verliert. Franz, Mitglied der Hitlerjugend, wird zum Jagdpiloten ausgebildet (laut dem Historiker Wilfried Meichtry so etwas wie ein Tummelplatz für die Aristokratie). Und Franz von Werra wollte wieder ein Herr werden. Keineswegs auf Distanz zum Regime, instrumentalisierte er dieses doch gleichsam für seinen persönlichen Zweck, wusste sich für seine Karriere wirksam in Szene zu setzen und kannte dabei kaum moralische Bedenken: als erfolgreicher Jagdflieger der deutschen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg, Gentleman,

Draufgänger, Liebling der Nazi-Medien
1941 gerät von Werra nach einer Bruchlandung auf einem englischen Acker in britische Gefangenschaft. Einmal in der Hand des Feindes, kennt er wiederum nur ein Ziel: Ausbruch. Ein erster Versuch scheitert, beim zweiten wird er ebenfalls gefasst. Dann verlegt England gut tausend Kriegsgefangene, unter ihnen auch von Werra, nach Kanada. Dort gelingt die Flucht. Er springt bei Eiseskälte aus einem fahrenden Zug, erreicht halb erfroren die Grenze und wird völlig erschöpft in einer amerikanischen Kleinstadt aufgelesen. Er schlägt sich durch nach New York, wird abermals ein Medienstar, dies in einem Amerika, das sich noch nicht im Krieg befindet, und erreicht über Rio de Janeiro, Spanien und Rom die deutsche Heimat wieder, wo er triumphal begrüßt und von Hitler persönlich empfangen wird. Im Auftrag von Goebbels schreibt er einen Bericht über seine Flucht, der jedoch nie erscheint.

Einer kam durch
Noch im gleichen Jahr kehrt Franz von Werra, erst 27-jährig, von einem Aufklärungsflug unter ungeklärten Umständen nicht mehr zurück. Die Legende rankt sich weiter. Die Engländer James Leasor und Kendal Burke stoßen nach dem Krieg auf das Manuskript und veröffentlichen die abenteuerliche Geschichte, die 1958 schließlich unter dem Titel The One That Got Away mit Hardy Krüger in der Hauptrolle von Roy Ward Baker in Grossbritannien verfilmt wird. Der deutsche Titel, Einer kam durch, wird zum geflügelten Wort.

Die Realität, sagt man, übertrifft die Fiktion. Werner Schweizer, stets interessiert, hinter Mythen, Propaganda und zeitbezogenen Zeugenaussagen eine wahre, eine tatsächliche Geschichte zu entdecken, hat sich über vierzig Jahre nach der Uraufführung von The One That Got Away den ursprünglichen Ereignissen aus dokumentarischer Sicht genähert. Sein Drehbuch basiert auf der Dissertation Zwischen Ancien Régime und Moderne: Die Adelsfamilie von Werra des Historikers Wilfried Meichtry, dem die Nachkommen der Walliser Familie entgegenkommend Einsicht in die Familienchronik gewährten. Vor allem im intimen Briefwechsel zwischen Franz und seiner Schwester Emma, die einander offenbar ungewöhnlich nahe standen, wird nicht nur die innige Beziehung der Geschwister lebendig, sondern auch ein Stück Zeitgeschichte: In der Karriere des Jagdfliegers spiegelt sich zugleich der anfängliche Aufstieg des Nationalsozialismus. Franz berichtet seiner geliebten Schwester zu Kriegsbeginn von der Front: Die Kriegsführung macht herrlich viel Spaß...

Der Krieg als Sport
Der Film erzählt jedoch nicht nur die Geschichte der beiden von Werra. Ausgehend vom Spielfilm The One That Got Away, folgt er zusammen mit Hardy Krüger den Spuren seines historischen Originals und verknüpft dabei dessen Biographie mit derjenigen seines Darstellers, der 14 Jahre nach dem Walliser geboren wurde und die Zeit des Nationalsozialismus an einer Elite- Schule in jungen Jahren ebenfalls erlebt hat - wie er ausführt, aus anderer, dank antifaschistischen Vorbildern kritischerer Optik. In Dokumenten und mit Zeitzeugen, unter ihnen auch der Regisseur des damaligen Films, nähert sich der Autor dramaturgisch aufschlussreich Schritt für Schritt dem ungewöhnlichen Leben der Geschwister von Werra, indem er gleichsam Puzzlestück an Puzzlestück aus deren Leben zusammenfügt. Dabei setzt Schweizer, der bereits in Dynamit am Simplon (1989) und Noël Field - der erfundene Spion (1996) Historie und Fiktion miteinander verbunden hat, die Dokumente auf höchst spannende, nie langweilige und immer informative Weise zusammen.

Aufschlussreich, wenn auch zum Teil zwiespältig, sind unter anderen die Aussagen ehemaliger Jagdflieger, die sich offenbar als Elite der Nation fühlten, den Krieg als eine Art sportlicher Auseinandersetzung betrachteten und über dessen Schrecken - zumindest im Film - auch heute noch kein Wort verlieren. In diesem Sinn gestattet der Film Einblicke in eine Mentalität, die ihn über die packende Familiengeschichte hinaus Teil eines historisch-kritisch bedeutsamen Anschauungsunterrichts über ausschließlich kriegsbezogenes Denken werden lassen.

Rolf Niederer

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/von-werra