Spider

Die Abgründe der Seele

Ein Bahnhof in London. Dennis Cleg (Ralph Fiennes), den seit seiner Kindheit jeder nur "Spider" nennt, verlässt einen Zug und beginnt einen Fußmarsch in eine ungewisse Zukunft. Nach vielen Jahren in einer Anstalt für kriminelle Geisteskranke soll er in die Gesellschaft resozialisiert werden. Der Staat hat ihn in die Obhut der resoluten Mrs. Wilkinson (Lynn Redgrave) gegeben, die in einem schäbigen Stadtteil eine Pension für Menschen wie Spider betreibt.

Spider ist ein Wrack. Wirr murmelnd und unendlich langsam schlurfend zieht er durch die Stadt. Er trägt vier Hemden übereinander, darüber noch einen alten Trenchcoat. Sein einziger Besitz ist eine Tabakdose, aus der er unermüdlich Zigaretten dreht, und ein zerschlissener Koffer, der nichts enthält außer einem Wecker, vielen Bindfäden und ein dünnes Heftchen, in das Spider in einer unidentifizierbaren Krakelschrift seine Tagebuch-Eintragungen macht. In der "Pension", die kaum mehr ist als ein besseres Obdachlosenasyl, bleibt Spider für sich. Einzig der verschrobene Terrence (John Neville) redet unermüdlich auf ihn ein und scheint sich nicht daran zu stören, dass Spider kaum reagiert.

Doch so still Spider an der Oberfläche auch sein mag – in seinem Inneren brodelt es. Spiders Hirn ist voll von Erinnerungsfetzen an seine schreckliche Kindheit und das blutige Geheimnis, das ihn zu dem gemacht hat, was er ist. Jetzt, da er aus der Abgeschiedenheit der Anstalt heraus und an den Ort seiner Vergangenheit zurückgekehrt ist, beginnt ihn der Albtraum wieder einzuholen. Spider sieht sich selbst als Kind und erlebt das Grauen noch einmal: Er sieht seine Mutter (Miranda Richardson), eine herzensgute, sanfte, aber auch latent depressiven Frau, die sein Ein und Alles ist. Mit seinem Vater (Gabriel Byrne) hingegen verbindet ihn eine regelrechte Hassliebe, die auf Gegenseitigkeit beruht. Gelegentlich muss Spider seinen Vater aus dem Pub zum Abendessen abholen. Dort sitzt stets auch Yvonne (Miranda Richardson) – eine laute, vulgäre Person, die seinen Vater jedoch magisch anzieht, so dass er eine Affäre mit Yvonne beginnt. Dem sensiblen Spider bleibt das Ganze nicht verborgen, mehr und mehr zieht sich der Junge zurück, beginnt, wie eine Spinne Bindfäden durch sein Zimmer zu spannen.

Irgendwann ahnt auch Spiders Mutter, was ihr Mann treibt. Als sie ihn im Pub aufsuchen will, ist er nicht da. Mrs. Cleg macht sich auf den Weg zu ihrem Schrebergarten. Als sie die Tür zu der kleinen Bretterbude öffnet, entdeckt sie dort ihren Mann und Yvonne in eindeutiger Pose. Ohne zu Zögern erhebt sich Mr. Cleg, nimmt eine Schaufel, holt weit aus und erschlägt seine Frau. Lachend verscharren Yvonne und der Mörder danach ihr blutüberströmtes Opfer im Gemüsebeet. Von da an lebt Yvonne als neue Mutter in Spiders Haus. Alle tun so, als hätte sich nichts geändert. Scheinbar spielt Spider das Spiel mit, er tut so, als wäre diese entsetzliche tatsächlich seine Mutter. Sein Vater glaubt, er hätte seinen Sohn im Griff. Doch Spider sitzt in seinem Zimmer, umgeben von einem immer dichteren Netz aus Fäden und schmiedet einen Plan...

Spider ist ein Gesamtkunstwerk, in dem verschiedene Ebenen der Wahrnehmung, der Erinnerung, der Realität und der Zeit sich überlagern, gegenseitig bedingen, durchdringen und so eine neue ganz eigene Sichtweise auf die Welt schaffen. Eine Welt, die vom Wahnsinn beherrscht wird, und die den Zuschauer mehr und mehr in ihren Bann zieht, denn Spiders Sicht der Welt weitet sich aus und wird hier zur alles beherrschenden Erzählhaltung. Ohne Rückgriff auf die gängigen Chiffren der Schizophrenie setzt Cronenberg auf eine ausgeklügelte und fein dosierte Dramaturgie und auf eine meisterhafte Ausstattung, die den Film auch zu einem optischen Erlebnis werden lassen. Ein überaus spannendes Filmexperiment, das im Kino seinesgleichen sucht.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/spider