Touch The Sound

Eine Reise in die Welt der stummen Töne

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Ungeachtet des enormen Wandels des Begriffs der Wahrnehmung vor allem auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrunderts dominiert in unserer Gesellschaft deutlich die visuelle Komponente. Selbst in der Musik, die doch vorrangig mit Hören assoziiert wird, spielt die bildliche wie filmische Umgebung eines Stückes eine immer größere Rolle, wie es die rasante und mittlerweile scheinbar unverzichtbare Entwicklung von Musikvideos zu beinahe jedem populären Song ausweist, so dass die rein klangliche Qualität augenscheinlich zunehmend an Bedeutung verliert. Dass der Komplex des Hörens jedoch weitaus mehr umfassen kann als eine auf das Ohr beschränkte, isolierte Wahrnehmung, dokumentiert auf außergewöhnlich ansprechende Art der Film Touch the Sound von Thomas Riedelsheimer, der die avantgardistische Ausnahmekünstlerin Evelyn Glennie porträtiert.
Ob in der Halle des New Yorker Bahnhofs Grand Central Station, in der schottischen Ellon Academy oder im Cafe Independence in Kyoto: Wenn dieses Frau das tut, was gemeinhin pauschal als trommeln bezeichnet wird, entströmt dieser zierlichen Person und ihren Klangwelten eine Faszination, die es vermag, die gewöhnlichen Rhythmen dieser Orte um ein magisches Moment zu erweitern. Die Percussionistin Evelyn Gleenie, die seit ihrer Erhebung in den britischen Adelsstand 2007 den Titel "Dame" führen darf, widmet ihre musikalische Kreativität all jenen Instrumenten, die sich schlagen lassen, von zärtlichst-sanft bis knüppelhart. Verfügt die Musikerin, die aus der ländlichen Region Aberdeenshires in Schottland stammt und heute in der Nähe von London lebt, auch bereits über einen gewaltigen Fundus an einschlägigem Schlagwerk, erfindet sie auch immer wieder selbst kuriose Klangkörper. In der Dokumentation Touch the Sound bespielt sie im New Yorker Guggenheim-Museum mit einem Bogen eine mit wassergefüllten Röhren ausgestattete Kupfervase, deren atmosphärischer Sound sich einem Walgesang ähnlich unaufdringlich in die Räume aufschwingt.

Wie der Untertitel A Sound Journey with Evelyn Gleenie / Eine Klangreise mit Evelyn Gleenie treffend transportiert, konzentriert sich Regisseur Thomas Riedelsheimer in seinem Film auf ein Unterwegssein mit der Künstlerin in einem Universum aus Tönen und Rhythmen an unterschiedlichen Orten weltweit, deren Alltagsklänge sich mit den individuellen Nuancen der Evelyn Gleenie vermischen. Gemeinsam mit der Stepptänzerin Roxane Butterfly sowie Musikern wie dem britischen Multiinstrumentalimprovisationsspezialisten Fred Frith, dem Drummer Horazio "El Negro" Hernandez und den japanischen Trommlern Za Ondekoza erschafft Evelyn Gleenie tönende Zeiträume, die in ihrer Einzigartigkeit und Resonanz bewegende Ausformungen von Künstlern darstellen, die es vermögen, die Wahrnehmungsgewohnheiten ihres Publikums ansprechend zu irritieren.

Die Dokumentation Touch the Sound, deren Titel auf die Aussage Evelyn Gleenies referiert, dass Hören bedeutet, den Klang zu berühren, wurde auf zahlreichen internationalen Filmfestivals aufgeführt und mehrfach prämiert, ebenso wie die porträtierte Musikerin, der für ihr Schaffen und Engagement einige Ehrungen und Auszeichnungen wie 1988 der Grammy für die Interpretation von Béla Bartóks "Sonate für 2 Klaviere und Schlagzeug" aus dem Jahre 1937 zuteil wurden. Der umfassenden Art, mit der Evelyn Gleenie, deren akustisches Hörvermögen sich seit einer Erkrankung in ihrer Kindheit drastisch reduziert hat, die Welt der Klänge, Rhythmen und Vibrationen wahrnimmt und transformiert, haftet etwas geradezu Sakrales an, das nicht zuletzt behindernde Kategorien wie "taub" oder "hörgeschädigt" angesichts einer bereichernden Andersartigkeit ad absurdum führt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/touch-the-sound