Egoshooter

Radikal digital

Der 19-jährige Jakob (großartig: Tom Schilling) teilt mit seinem Bruder und dessen schwangerer Freundin Karo eine Wohnung in Köln und lebt in den Tag hinein. Mit seiner Videokamera hält er obsessiv sein driftendes Leben fest: Er filmt sich beim Masturbieren, beobachtet heimlich mit der Kamera seinen Bruder beim Sex mit Karo und zeichnet die Rap-Auftritte seines Freundes Phillip auf. Er befriedigt am Flussufer ein Mädchen aus seiner Clique; er schnorrt Passanten um Geld an; er betrinkt sich mit der Mutter eines Kumpels, dringt in ein fremdes Haus ein und zertrümmert zusammen mit Phillip das Mobiliar. Doch die Taten von Jakob sind keine Auflehnung gegen ein wie auch immer befindliches „System“ wie bei Die fetten Jahre sind vorbei, sondern kleine, unbeholfene Fluchten aus einem Alltag, festgehalten in Splittern, Momentaufnahmen und Impressionen von großer Unmittelbarkeit.
Radikal Digital nennt sich eine Reihe von kleinen Filmen, die sich mit den Möglichkeiten des digitalen Films auseinandersetzt und die von Wim Wender initiiert wurde. Und Egoshooter ist einer der Beiträge aus dieser Reihe, allerdings keiner, der den Zugang zu den neuen Möglichkeiten leicht macht. Keine Frage: Der Film, eine Mischung aus Videotagebuch und Spielfilm wagt etwas. Auf einen genaue Festlegung einer Story verzichteten die beiden Regisseure Christian Becker und Oliver Schwabe zugunsten von Spontaneität und Improvisation, was der Hauptdarsteller Tom Schilling bestens umsetzen konnten. Doch die bewussten Leerstellen und Zwischenräume, in denen einfach nichts geschieht, sind nicht jedermanns Sache. Für manchen bärbeißigen Kritiker, der schon immer wusste, dass die Welt früher – also so um 1968 – mehr in Ordnung war, sind die Handlungssplitter und die Ziellosigkeit des Protagonisten mal wieder eine weitere Bestätigung des Klischees, dass die Jugend von heute keine Ziele mehr hat, keine Ideale und dass „damals“ sowieso alles viel besser war. Das ist vielleicht aber auch nur die ziemlich blasierte Sicht derer, die es eh schon geschafft haben. Wer Augen hat zu sehen, entdeckt darin das Soziogramm eines „ganz normalen“ Jugendlichen, der zwischen Orientierungslosigkeit, gesellschaftlichem Desinteresse und allgegenwärtiger Zukunftsangst seinen Weg sucht. Eine Leere und ein Vakuum, das erschreckt und vielleicht manches ein wenig deutlicher macht. Vielleicht ist Egoshooter mehr eine Studie als ein „wirklicher“ Film, eine Fingerübung in digitaler Ästhetik und ein Ausloten der zweifellos beachtlichen darstellerischen Fähigkeiten eines Tom Schilling. Und doch ist so ein Experiment neben schlau kalkulierter Massenware und clean designten Plot-Lines, die auf Nummer Sicher gehen, nicht genug zu loben.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/egoshooter