Was lebst du?

Milieudokumentation trifft Dokumentationsmilieu

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Eine junge Regisseurin ohne Budget, Absolventin der Kölner Kunsthochschule für Medien mit der Erfahrung einer Mitarbeit an kleineren Dokumentationen, trifft in einem Kölner Jugendtreff auf eine Gruppe von Jugendlichen, die Migrantenfamilien entstammen. Sie bemüht sich, diese für eine Milieustudie mit der Kamera zu gewinnen, weil sie vom Umgang der Jungs miteinander und vor allem von ihrer Sprache beeindruckt ist. Das klingt sicherlich nicht nach einer weltbewegenden Ausgangssituation, womöglich nach einer soliden Dokumentation für das Fernsehen, und doch ist der Film Was lebst du? von Bettina Braun etwas ganz Besonderes geworden.
Ali, Kais, Alban und Ertan sind gute Kumpel zwischen 16 und 20 Jahren, die in ihrer Freizeit zusammen abhängen; ihre Gedanken und Gespräche drehen sich um Schule und Ausbildung, Auseinandersetzungen mit ihren überwiegend traditionell muslimischen Eltern, manchmal um Mädchen und häufig um ihre Positionierung innerhalb einer Gesellschaft, in der sie sich ihren Platz oft mühsam erkämpfen müssen. Angesagt sind Witz und Coolness, es herrscht ein rauer Ton untereinander, und doch ist ihre Beziehung von Respekt und Loyalität geprägt. Erfüllen sie auf den ersten Blick auch das Klischee heranwachsenden Männlichkeitsgehabes, eine Selbstinszenierung, die die Erwartungen und Vorurteile ihrer Herkunft gegenüber karikiert, so legt eine nähere Betrachtung doch ihre Verletzlichkeit, Warmherzigkeit und auch Selbstironie frei, mit der sie den Konflikten der Jugendzeit auf der Suche nach ihrer eigenen kulturellen wie persönlichen Identität begegnen. Der Zuschauer trifft auf vier junge Männern, die offen über ihre Träume sprechen, in denen sie sich als erfolgreiche Rapper oder Schauspieler sehen, aber auch auf ihre harte Realität, in der Ausbildungen abgebrochen werden und es Ärger mit der Polizei gibt- aber auch eine Musical-Premiere, bei der sich für einen von ihnen tatsächlich ein Traum erfüllt.

Bettina Braun nahm mit Was lebst du? gemeinsam mit ihren Protagonisten äußerst erfolgreich an mehreren Festivals teil; der Film eröffnete die Duisburger Filmwoche 2004, bei der er den Publikumspreis gewann, erwarb den ersten Preis des Filmfestivals Türkei/Deutschland 2005 in Nürnberg und erhielt den PHOENIX-Dokumentarfilmpreis dieses Jahres. Die Regisseurin, auch verantwortlich für Buch, Kamera, Schnitt und Ton, erhielt erst nach einer guten Weile der zweijährigen Drehzeit eine Zusage der Filmförderung und vom „Kleinen Fernsehspiel“ des ZDF, wobei Christian Cloos, der das Projekt zunächst ablehnte, bis er sich durch ein paar Ausschnitte überzeugen ließ, die Redaktion übernahm.

Die Dreharbeiten erforderten ein hohes Maß an Flexibilität und immer wieder Überzeugungsarbeit der Regisseurin, denn das Misstrauen und die Verweigerung der Jungs war anfangs sehr groß. Es gab ausführliche, zähe Verhandlungen darüber, was gefilmt und gezeigt werden durfte, und Themenschwerpunkte kristallisierten sich erst allmählich heraus. Bettina Braun sah sich kritischen Vertretern einer Fernsehgeneration gegenüber, die einen sehr bewussten Umgang mit der Inszenierung und ihrer Rolle dabei sowie eine absolute Transparenz forderten, bevor sie zu einer aktiven Mitarbeit bereit waren, die Alban reflektierend beschrieb: „Wir spielten ein Stück, ohne den Text auswendig zu lernen: unser Leben“.

Das ganz Besondere an diesem Film aber ereignete sich auf einer anderen Ebene. Im Zuge der Zusammenarbeit mit den Jugendlichen und der präzisen Absprachen über ihre Grenzen fand sich Bettina Braun zunächst in der Situation wieder, ausführlich über sich selbst und ihre Arbeit zu berichten, bis schließlich die Grenze zwischen der Filmemacherin und ihren „Objekten“ so weit gehend verwischt wurde, dass sie selbst zu ihrer eigenen Protagonistin, zu einer von ihnen wurde; die Milieudokumentation beschäftigte sich mit dem Dokumentationsmilieu, so dass die distanzierte Beobachtung zu Gunsten einer subjektiven, sehr persönlichen und involvierten Haltung aufgehoben wurde. Die Regisseurin, die im Zuge der Dreharbeiten schwanger war, ihr Kind gebar und sich letztlich dafür entschied, ihre eigene Entwicklung und die ihres Sohnes mit in die Dokumentation aufzunehmen, hat damit sicherlich einen ungewöhnlichen und nicht unumstrittenen Weg beschritten, der ihr allerdings einigen Erfolg beschert hat. Und Welten hat die Dokumentation schließlich doch bewegt- jene einer Filmemacherin und die ihrer Darsteller, darin sind sich alle am Ende einig.

Was lebst du? ist sicherlich ein mutiger Film, dem nicht zuletzt auch ein junges, kritisches Publikum zu wünschen ist.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/was-lebst-du