Das zweite Leben des Monsieur Manesquier

Das Leben der Anderen

Hat nicht jeder schon einmal darüber spekuliert, was sein könnte, wenn es möglich wäre, das Leben eines anderen zu führen? Und sind es nicht immer wieder Reisen, die dazu angetan sind, diesen Wunsch nach einem anderen oder zumindest einem parallelen Leben in uns zu wecken? In Alfred Hitchcocks Meisterwerk Strangers on a train etwa tauschen zwei Männer die Rollen und vereinbaren, jeweils für den anderen einen Mord auszuführen, um dem anderen ein perfektes Alibi zu geben. Ganz so mörderisch geht es bei Patrice Lecontes neuem Film Das zweite Leben des Monsieur Manesquier / L\'Homme du train allerdings nicht zu. Als der pensionierte Lehrer Monsieur Manesquier (brillant wie stets Jean Rochefort) zufällig in einer Apotheke den soeben mit dem Zug eingetroffenen Ganoven Milan (Johnny Haliday) kennen lernt und vom Kopfschmerz Geplagten zu sich nach Hause einlädt, damit dieser sich die dringend benötigte Tablette auflösen kann, treffen per Zufall zwei Männer aufeinander, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Und da das örtliche Hotel gerade geschlossen hat, ist es für den höflichen Manesquier eine Selbstverständlichkeit, Milan für einige Tage einzuladen, zumal er dringend der Ablenkung bedarf, da der Lehrer eine Herzoperation vor sich hat, vor der es ihm graut. Und just an dem selben Tag plant auch Milan Großes – den Überfall einer Bank.
So unterschiedlich diese beiden Charaktere auch sein mögen, es verbindet die beiden Männer eines: Der Traum von einem anderen Leben. Manesquier würde gerne einmal etwas riskieren und sein Dasein wild und gefährlich gestalten, weswegen er Feuer und Flamme ist, als er von dem bevorstehenden Raubüberfall hört. Zur Sicherheit schafft er sich erst mal einen verwegenen Haarschnitt an, um dem Wunsch nach Veränderung auch äußerlich Rechnung zu tragen. Und Milan, der ehemalige Zirkusartist, hätte gerne ein Leben in Ruhe und Behaglichkeit, mit Filzpantoffeln und ohne große Aufregungen. So ergreift er flugs die sich bietende Gelegenheit und erteilt einem von Manesquiers Nachhilfeschülern einen Crash-Kurs in Literatur, ohne freilich jemals Balzac gelesen zu haben. Doch um Poesie zu verstehen reicht es, das Leben zu kennen. Und darin hat Milan allemal reichlich Erfahrung. Die Abende verbringen die beiden Männer ins Gespräch vertieft, trotz oder gerade wegen der Zufälligkeit ihrer Begegnung und ihrer Gegensätzlichkeit kommen sie sich näher. Viel Zeit bleibt ihnen allerdings nicht um herauszufinden, wie es sich in der Haut des anderen lebt, denn für beide steht der Tag der Entscheidung, wie es im Leben weitergeht, unmittelbar bevor...

Patrices Lecontes bereits 2002 fertiggestellter Film Die zwei Leben des Monsieur Manesquier / L’Homme du train ist ein stiller, beinahe philosophischer Film, der dank der beiden Hauptdarsteller und der sensiblen Regie des Meisters des psychologischen fundierten Dramas zum Lächeln ebenso anregt wie zum Nachdenken. Die Unterschiedlichkeit der beiden Männer findet sich auf beinahe jeder Ebene des Films wieder, vor allem die Musik und die Farbdramaturgie symbolisieren die zwei Charaktere, und ganz unmerklich vermischt Leconte im Laufe des Films die beiden Gegensätze, so dass es am Ende fast so erscheinen mag, als seien die zwei lediglich zwei Facetten ein und derselben Person. Ein kluger, nachdenklicher und poetischer Film über das Älterwerden und die Freundschaft, verpasste Chancen und die Zufälle des Lebens, die jeden zu dem machen, der er ist.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/das-zweite-leben-des-monsieur-manesquier