Ein ganz gewöhnlicher Jude

Hirschbiegels neuester Streich

Eine Filmkritik von Gesine Grassel

„Ich möchte aber nicht erlitten werden, nicht gelitten und nicht geduldet. Die permanente Solidarität geht mir auf die Nerven. Ich kann Leute nicht ausstehen, die morgens nach dem Aufstehen immer erst mal zehn Minuten solidarisch sind, bevor sie sich die Zähne putzen. Ich weiß ja, dass es gut tut, ein guter Mensch zu sein, aber zieht mich da nicht rein! Ich will die Sonderrolle nicht haben. Nicht im Schlechten und nicht im Guten. Ein ganz gewöhnlicher Mensch möchte ich sein. Ein ganz gewöhnlicher Jude.“
Hamburg, Gegenwart: Der Journalist Emanuel Goldfarb wird eingeladen, vor einer Schulklasse über sich und sein Leben als Jude in Deutschland zu erzählen. Voller Widerwillen lehnt er die Anfrage gedanklich ab. Als er anfängt die Absage zu verfassen, per Schreibmaschine und Zwei-Finger-Suchsystem, beginnt er unweigerlich Bilanz zu ziehen. Er betrachtet sein bisheriges Lebens und geht auf eine Reise, die schmerzhaft ist, belastet und ihn gleichermaßen provoziert. Dass ein anderer ihn so zum Nachdenken bringt, ärgert Goldfarb umso mehr. Langsam tastet er sich vor zu seinen jüdischen Wurzeln, hinterfragt Meinungen und sein eigenes Dasein. Am Ende der Reise angekommen ist sein Leben äußerlich kein anderes, aber innerlich völlig verändert.

Ein ganz gewöhnlicher Jude ist der neue Geniestreich von Regisseur Oliver Hirschbiegel und erinnert in seiner Machart und Thematik mehr an Mein letzter Film (auch ein Solostück mit der großartigen Hannelore Elsner) als an Hirschiegels Kassenerfolge Das Experiment oder Der Untergang. Ben Becker beeindruckt in der Rolle des Emanuel Goldfarb. Von sich überzeugt, aber verbittert spielt er einen altmodischen Schreibkünstler, dessen Identität genauso zusammen gestückelt ist wie die Einrichtung der Wohnung. Plexiglassessel neben Biedermeier-Holzmöbeln, eine antike Espressomaschine neben modernem Glastisch. Goldfarb weiß nicht, wer oder was er ist. Da er schon mit sich selbst nicht zurecht kommt, sucht er die Konfrontation mit der Umwelt. In einem Anfall von Selbstgerechtigkeit und Überzeugung kritisiert er nicht nur seine deutschen Mitmenschen, die von Solidarität und Mitgefühl befangen nie den richtigen Ton finden, sondern auch die Unfähigkeit der Juden aus der Vergangenheit zu entkommen und in der Gegenwart zu leben. Zynistisch aber ehrlich spricht und schreit er in sein Diktiergerät; seine ursprünglich als Absage an den Lehrer gedachten Worte werden zum Plädoyer für ein freies Leben im Hier und Jetzt. Die Frage nach dem Dasein als Jude im heutigen Deutschland ist für ihn zentraler Ausgangspunkt, von dem unzählige Gedanken wie Fontänen aus ihm heraussprudeln. Emanuel Goldfarb rechnet ab: Mit sich, mit seiner Familie, mit seiner Umwelt.

Einen solchen Film zu beschreiben fällt schwer, eine Beurteilung ist ohne fundierte Kenntnisse fast unmöglich. Zuerst aufgrund der komplexen und auf vielen Ebenen angesiedelten Gedanken. Der künstlich erzeugte und gewollte Minimalismus in Geschichte und Aufnahme setzt sich erst nach und nach als sinngebend zusammen. Der Film beruht auf Charles Lewinskys Buch Ein ganz gewöhnlicher Jude. Um im Sujet des Filmes zu bleiben: Darf man eine solche geistige Haltung und Äußerung kritisieren? Oder verfällt man mit unangebrachter Zurückhaltung in genau die kritisierten Schemata?

An einigen wenigen Fakten kann man sich dann doch problemlos entlang hangeln. Da ist Ben Becker, der eine furiose Performance ablegt, dessen Gesicht in langen Einstellungen geradezu optisch denkt. Der Film ist nicht zuletzt ein wertvoller Schnellkurs in Sachen Judentum. Geschichte der Religion, Feiertage, Gebote, Verbote. Traditionen und Aufarbeitung der Vergangenheit stehen zwar nicht im Vordergrund, kommen aber voll zur Entfaltung. Keine große Handlung, sondern ein fesselnder und nicht abbrechen wollender Monolog sind das Herz des Films, der inhaltlich und formell zu keiner richtigen Schlussfolgerung kommt. Um es mit Goldfarbs Worten zu erklären. „Man kann in Deutschland kein ganz normaler Jude sein. Man wird ein ewiger Sonderfall bleiben.“ Das trifft auch auf den Film zu. Ein Sonderfall, der überrascht und seinem Sonderstatus alle Ehre macht.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/ein-ganz-gewoehnlicher-jude