Esmas Geheimnis - Grbavica

Porträt eines Berlinale-Siegers

Eine Filmkritik von Gesine Grassel

Die letzten Tage ihrer Reise nach Berlin müssen Jasmila Zbanic wie ein Bären- und Preisregen vorgekommen sein. Neben dem Goldenen Bären der Berlinale-Jury wurde ihr Spielfilmdebüt Esmas Geheimnis - Grbavica mit dem Preis der Ökumenischen Jury und dem Friedensfilmpreis ausgezeichnet.
In ihren Dankesreden wird die Absolventin der Academy of Dramatic Arts in Sarajevo nicht müde zu betonen, dass der Krieg in ihrem Land bis heute zu spüren ist und sich die internationale Staatengemeinschaft mit der Situation beschäftigen müsse. Auch wenn der Krieg fast zehn Jahre zurück liegt, ist er für die Opfer nicht vorbei. Genau davon erzählt ihr erster Spielfilm Esmas Geheimnis - Grbavica. Die allein erziehende Mutter Esma (Mirjana Karanovic) lebt mit ihrer 12-jährigen Tochter Sara (Luna Mijovic) in Grbavica, einem Stadtteil von Sarajewo. Der Krieg ist seit einigen Jahren vorbei und der Wiederaufbau weit fortgeschritten. Die Menschen aber leiden noch immer. Weil Esma mit der staatlichen finanziellen Unterstützung nicht über die Runden kommt, nimmt sie einen Job als Kellnerin in einem Nachtclub an. Traumatisiert vom Krieg lernt sie mit ihrem Kollegen Pelda (Leon Lucev) einen verständnisvollen und mitfühlenden Freund kennen. Schnell kommen sich die beiden näher, was Tochter Sara überhaupt nicht gefällt. Die Spannungen verschärfen sich, als Sara immer öfter nach ihrem Vater fragt. Mit vorgehaltener Waffe zwingt der Teenager die Mutter, endlich die Wahrheit preiszugeben. Die jahrelange Lüge, dass dieser als Märtyrer für das geliebte Land gestorben sei, kann Esma nicht länger aufrecht erhalten. Stattdessen ist ihre Tochter das Ergebnis wochenlanger Vergewaltigungen durch die Tschetniks. Die Wahrheit offenbart Angst und zerrt eine Vergangenheit ans Licht, die besser hätte ruhen sollen. Die Beziehung von Mutter und Tochter droht zu zerbrechen.

Esmas Geheimnis - Grbavica ist großes Sozialkino. Eine Milieustudie, die eine zerrissene und vom Krieg gezeichnete Generation portraitiert. Die Zeit und ihre Veränderungen haben sich wie ein Schleier auf alte Wunden gelegt. Die Jugend hört Popmusik aus Amerika, die Kleidung steht dem Westen in nichts nach und die kriminelle Unterwelt floriert. Die seelischen Verletzungen und Ängste aber sind nach wie vor groß.

Mehr als 20.000 Frauen wurden während des Krieges in Bosnien und Herzegowina systematisch vergewaltigt, mehr als 100.000 Menschen getötet. Die bosnische Dokumentarfilmerin, die nach ihren Filmen Rote Gummistiefel und Do you remember Sarajevo erneut ein Thema ihrer Heimat und Vergangenheit aufgreift, hat sich für den Film über Jahre mit den Geschehnissen beschäftigt. Sie hat ein Drehbuch geschrieben, das das Leben danach zeigt. Das Portrait einer Gesellschaft, in der kaum Rache unter den ethnischen Gruppen existiert. Ein schonungsloser und packender Blick der Regisseurin auf ihre Heimat und eine Idylle, in der jeder nur ums Überleben kämpft und sich mit kleinen, schönen Momenten über Wasser hält. Voller eindringlicher Bilder und Momente lässt sie den Film nicht hoffnungslos und verbittert enden, sondern mahnt. Poltisch im privaten Sinne ist Esmas Geheimnis - Grbavica nicht zuletzt auch ein Film über die Liebe, die nicht immer unbelastet und frei ist, sondern mit Hass, Verzweiflung und Traumata unterlegt sein kann. Das Leben aber muss für die traumatisierten Frauen in Bosnien weitergehen.

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