Flug 93

Die fehlenden Bilder des 9/11

Eine Filmkritik von Katrin Knauth

Meist ist es nur eine Frage der Zeit, garantiert ist es aber allemal: Jedes Desaster mit weltpolitischer Bedeutung findet irgendwann seinen Weg über Hollywood auf die große Leinwand. Im Fall von Flug 93 / United 93 sind viereinhalb Jahre nach der Tragödie vom 11. September 2001 bis zur Kinoaufführung vergangen, mit der sich ein Kinofilm zum ersten Mal explizit auseinander setzt. Bei den Terroranschlägen von „9/11“ starben damals etwa 3000 Menschen durch die Flugzeugattacken auf New York und Washington und 256 in den vier gekidnappten Flugzeugen selbst. Zwei der Flugzeuge schlugen in das World Trade Center in New York ein. Eines stürzte auf das Pentagon. Das vierte Flugzeug, die United 93, verfehlte sein vorgesehenes Ziel in Washington und stürzte ins freie Feld von Shanksville, Pennsylvania, nachdem ihre Passagiere versuchten, die Attentäter zu überwinden und die Gewalt über das Flugzeug zu gewinnen.
Die groben Ereignisse von „9/11“ sind bekannt, die Bilder haben sich uns tief eingeprägt. Wie in einer Endlosschleife liefen sie damals auf allen Kanälen, um das Unfassbare uns immer wieder vor Augen zu führen. Sprachlos und erschüttert konnten wir nahezu live miterleben, wie unsere Welt in ihren Grundfesten erschüttert wurde und von diesem Tag an nicht mehr die dieselbe bleiben sollte. Was wir nicht zu sehen bekamen, waren die dramatischen Ereignisse, die sich an Bord des vierten Flugzeuges abspielten. Flug 93 / United 93 greift diesen interessanten Widerspruch auf und zeigt uns auf brillante Weise einerseits das, was wir im Detail kennen und anderseits, was wir niemals wissen werden. Entstanden ist ein atmosphärisch dichtes und stilistisch faszinierendes Doku-Drama. Die in Echtzeit nachgestellten Ereignisse an Bord der Boeing 757 von United Airlines sind packend wie ein Thriller inszeniert, die Ereignisse an Boden akribisch und authentisch genau rekonstruiert.

Dieses Genre ist für den britischen Regisseur Paul Greengrass kein Neuland. Mit Bloody Sunday (2002) drehte er einen halbdokumentarischen Film über den irischen Blutsonntag von 1972, bei dem britische Fallschirmjäger 27 irische Demonstranten niederschossen. Der Film wurde für seine glaubwürdige Darstellung damals sehr gelobt. Zwei Jahre später inszenierte Greengrass den internationalen Blockbuster Die Bourne Verschwörung, ein stilistisch gelungener Agenten-Thriller, der allerdings durch seine schnelle Schnitttechnik, hektische Kameraführung und rasanten Locationwechsel so einigen Zuschauern ein leichtes Schwindelgefühl eingebrachte.

Als Vorbereitung für Flug 93 / United 93 recherchierten Greengrass und sein Team zahllose Quellen, führten stundenlang Interviews mit den Angehörigen der 40 Passagiere und der Crew, mit Mitgliedern der „9/11“-Untersuchungskommission, mit Fluglotsen und mit Militärs und Zivilisten, die an diesem Tag etwas mit dem Geschehen zu tun hatten. Dabei hielt sich Greengrass immer wieder an sein selbst auferlegtes Leitmotiv der „glaubhaften Wahrheit“. Die authentische Realisierung der Geschehnisse wird dadurch unterstützt, dass Greengrass mit Laiendarstellern arbeitet, relativ unbekannten Schauspielern und Personen, die damals wirklich selbst den 11. September in der Rolle erlebten, die sie im Film darstellen. Dazu zählen Ben Sliney, der die Kommandozentrale der Federal Aviation Administration in Herndon, Virginia leitete, der Fluglotse von Boston, Thomas „Tommy“ Roberts, der Militärexperte Colin Scoggins, der Major der National Air Defence James Fox und Sergeant Jeremy Powell.

Greengrass hat sich für sein Filmprojekt die Zustimmung der über 100 Angehörigen und Freunden der 40 Opfer, die beim Absturz der United 93 ums Leben kamen, eingeholt. Das Vertrauen in ein solch emotionsgeladenes Werk weiß Greengrass mit dem nötigen Respekt und angemessener Sensibilität zu erwidern. Mit Flug 93 / United 93 schafft er ein bedeutendes Mahnmal für die Opfer eines unvergesslichen Ereignisses.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/flug-93