Lucy

Neues aus der Berliner Schule

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Die 18-jährige Maggy (Kim Schnitzer) hat gerade ein Kind bekommen, die kleine Lucy. Der Vater ist unwichtig, es ist niemand mehr, der in ihrem Leben noch eine große Rolle spielt. Die junge Mutter und ihre Tochter leben zusammen bei Maggys Mutter Eva (Feo Aladag), doch Maggy sehnt sich nach einem eigenen intakten Familienleben. Als sie in einer Disco Gordon (Gordon Schmidt) kennen lernt, sieht sie ihre Chance gekommen, ihren Traum in die Wirklichkeit umzusetzen, zumal sich Gordon dazu bereit erklärt, Verantwortung für Lucy zu übernehmen. Allerdings zeigt sich schnell, dass die beiden dem Alltag mit einem Kind nicht ohne weiteres gewachsen sind.
Eigentlich, so deutet zumindest der Filmtitel es an, steht die kleine Lucy im Mittelpunkt der Geschichte. Zumindest sollte sie das, denn ein Baby beansprucht immer die volle Aufmerksamkeit der Umwelt und insbesondere der Mutter. Henner Winckler aber zeigt in seinem Film, wie es wirklich ist: Da ist Lucy oftmals nur Beiwerk, Hindernis, Schicksal und Spielball. Denn ihre Mutter ist selbst beinahe noch ein Kind und mit der Situation sichtlich überfordert. Der von Politikern gerne im Umlauf gebrachte Traum von der Familie als Hort privaten Glücks, er findet hier in diesem Film nicht statt, sondern muss sich am realen Leben abseits aller Absichtsbekundungen messen lassen. Ohne Anklage oder Schuldzuweisungen, ohne moralisierenden Tonfall zeigt Winckler, dass sowohl Maggy wie auch Gordon sich schwer tun damit, ihr bisheriges Leben für die kleine Lucy aufzugeben und auf alles zu verzichten. zu verstehen. Das wirkt zwar beinahe schockierend, doch bei näherem Betrachten als gnadenlos ehrlich und realistisch und erinnert zeitweise stark an den harschen Realismus von L’enfant / Das Kind, ohne dessen unbarmherzige Härte zu erreichen.

Sachlich, nüchtern und ohne jedes Pathos, so dass man zumeist vermeint, realem Leben und nicht einem Film beizuwohnen, erzählt der Regisseur Henner Winckler in seinem zweiten Spielfilm Lucy (sein Debütfilm Klassenfahrt wurde mehrfach ausgezeichnet) von einer jungen Frau und reiht sich damit quasi nahtlos in die propagierte \"Berliner Schule\" ein, die sich einem neuen Realismus im Kino verschrieben hat. Dabei krankt Lucy neben zahlreichen unübersehbaren Stärken an genau jenen Punkten, die sich ebenso subsumierend auf die gesamte Berliner Schule anwenden lassen: Das Bestehen auf einen Erfassbarkeit der Wirklichkeit wirkt zeitweise ebenso naiv wie dogmatisch und gibt den Filmen bisweilen den Charakter von Sozial-Traktaten, die zwar aufklären, aber häufig genug anämisch und spröde wirken und den Zuschauer schlichtweg emotional nicht berühren. Bei Lucy ist das nicht viel anders, zwar ist der Film als beinahe dokumentarische Analyse von Maggys Situation ein durchaus gelungenes Werk, doch die Wahl der erzählerischen Mittel macht es schwer, von Lucy wirklich begeistert zu sein. Zu oft fühlt man sich lediglich als neutraler Beobachter eines fremden Schicksals, dem man tagtäglich begegnen könnte, es aber stets einfach nicht wahrnimmt, weil anderes den Geist beansprucht. Im Kino der Berliner Schule aber gibt es dieses Entrinnen und Abschweifen nicht mehr. Für neunzig Minuten oder mehr wird die Aufmerksamkeit des Kinogängers auf ein Leben und ein Schicksal gelenkt, das der so genannten Realität erschreckend nahe kommt. Das kann faszinierend sein, aber auch entsetzlich langweilig und mühsam. Und häufig genug ist es beides – wie auch in diesem Fall.

Man muss die Filme der Berliner Schule nicht mögen, und sicherlich fällt es vielen Zuschauern leicht, Filme wie die von Angela Schanelec, Christian Petzold und anderen Regisseuren wie Valeska Grisebach, Christoph Hochhäusler und Benjamin Heisenberg aufgrund ihrer Langsamkeit und Loslösung von Plotstrukturen abzulehnen, doch die Regisseure fügen dem deutschen Film lange vermisste Sichtweisen und Bilder hinzu, die höchste Aufmerksamkeit verdienen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/lucy