Lemming

Das Grauen kommt auf Samtpfoten

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Es wäre schön und äußerst beruhigend, wenn sich alles im Leben so effizient kontrollieren ließe wie das traute Heim, das dank einer fliegenden Überwachungskamera selbst aus der Ferne problemlos zu überwachen ist. Erfinder dieses „fliegenden Auges“ ist der jungen Ingenieur Alain Getty (Laurent Lucas), der gerade mit seiner Frau Bénédicte (Charlotte Gainsbourg) nach Tolouse gezogen ist, um dort für ein Unternehmen der Sicherheitstechnik zu arbeiten. Doch die Tücke des Objekts liegt im Detail, und so scheitert die Demonstration der fliegenden Überwachungskamera an einem jener Automatismen, der das brummende Fluggerät gleich einem unliebsamen Insekt zerquetscht. Doch das ist erst der Anfang einer merkwürdigen Geschichte…
Als Alain nach Hause zurückkehrt, ist der Abfluss in der heimischen Küche verstopft – und zwar ausgerechnet von einem Lemming, einem Tier also, dass ausschließlich in Skandinavien beheimatet ist und dem außerdem nachgesagt wird, dass es rudelweise Selbstmord begeht. Doch die rätselhafte Anwesenheit des kleinen Nagers ist nur der Vorbote für Ereignisse, die wesentlich größere Auswirkungen auf das Leben der Gettys haben werden. Ein gemeinsames Abendessen mit Alains Chef Richard Pollock und seiner seltsamen Gattin Alice (Charlotte Rampling) endet im Chaos, als Alice ihren Mann bloßstellt und demütigt, um am nächsten Tag zu versuchen, Alain zu verführen. Offensichtlich ist Alice besessen davon, das Glück der Gettys zu zerstören, denn anschließend sucht sie Bénédicte auf, um sich schließlich im Gästezimmer der Gettys zu erschießen. Doch selbst nach dem Tod von Alice ist der Albtraum, in den Alain und Bénédicte geraten sind, nicht vorbei, denn die junge Frau scheint sich immer mehr in ein Abbild der bösen und gehässigen Gattin von Richard zu verwandeln. Alain droht den Verstand zu verlieren, als eines Tages eine Horde von Lemmingen seine Küche bevölkert…

Äußerst geschickt und beklemmend inszeniert Dominik Moll, dessen Film Harry meint es gut mit dir vor einigen Jahren für subtilen Grusel in bester Hitchcockscher Manier in den Kinos sorgte, mit Lemming eine kühl-elegante und verrätselte Mixtur aus Ehedrama und Psychothriller, die ihr Spannungspotenzial vor allem aus der Psychologie der Charaktere und nicht durch schnöde Schockeffekte entfaltet. Mit zahlreichen, nicht immer gelungenen, aber trotzdem überraschenden Wendungen entfaltet Moll ein starkes Gefühl der Orientierungslosigkeit, das den Zuschauer im Unklaren darüber lässt, was nun Realität, was Phantasie und was Albtraum war. Und selbst die schlussendliche Wiederkehr der gewohnten Ordnung kann das beklemmende Gefühl nicht verscheuchen, mit dem man nach diesem Film das Kino verlässt. Lemming ist ein Film, der nicht über die ganze Länge vollständig zu überzeugen weiß, der aber dem Genre des Psychothrillers eine unverkennbar französische Variante hinzuzufügen weiß. Unterkühltes Psychokino, irgendwo zwischen Ozon und Hitchcock, Lynch und Haneke.

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