Der Hals der Giraffe

Kleines Mädchen ganz groß

Eine Filmkritik von Gesine Grassel

Lebenslügen gibt es in vielen Familien. Aber nur selten ist es ein neunjähriges Mädchen, das die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringt. Mit welcher Energie die kleine Mathilde ihren Großvater und ihre Mutter auf Trab hält, das erzählt Regisseur Safy Nebbou in seinem ersten langen Spielfilm auf anrührende, schmerzhafte und am Ende betörend versöhnliche Weise.
Am Anfang hören wir nur ihre Stimme. Aus dem Off kommentiert Mathilde eine Autofahrt, zählt nervtötend all die Zebrastreifen und Brücken auf, die der Wagen passiert. Schnitt: Mathilde auf dem Rücksitz, sie spricht die Details ins Diktiergerät. Scheinbar ein kindischer Zeitvertreib, die Wegbeschreibung zum Altenheim des Opas zu reproduzieren. In Wirklichkeit jedoch ist die vorgebliche Spielerei Teil eines höchst erwachsenen Plans.
Mathilde hält ihre Mutter Hélène für eine Lügnerin. Zu Recht. Hélène hatte dem Mädchen erzählt, dass dessen Großmutter seit langem tot sei. Aber Mathilde hält den Beweis des Gegenteils in der Hand: einen Brief der Oma an die Enkelin, den sie zufällig findet und den man ihr jahrelang verheimlicht hatte. Das Mädchen will sich mit den familiären Spannungen und der Heimlichtuerei von Mutter und Opa nicht länger abfinden. In der Nacht schleicht sie sich aus dem Haus, läuft zum Altenheim, weckt den Opa und nötigt ihn, die Oma zu suchen. Damit beginnt ein Roadmovie, das zugleich eine Reise nach innen ist: zu den verschütteten Gefühlen der Protagonisten.
Vieles kommt dabei ganz beiläufig an den Tag. Etwa in einem zunächst belanglosen Gespräch mit Fremden im Zug. Oder durch vielsagende Blicke und beredtes Schweigen. Der französische Regisseur Safy Nebbou erzählt eine dramatische Geschichte von existenziellen Verlusten, von nicht wieder gut zu machenden Fehlern. Aber er tut dies auf eine alltagsnahe Art. Es ist nicht die Wucht der Tragödie, die ihn interessiert. Seine Figuren sind realistische, von Widersprüchen und Schwächen geprägte Menschen. Sie kommen gerade dadurch ein Stück weiter, dass sie ihre Lebensgeschichte so annehmen, wie sie nun einmal ist.

Da fällt es auch nicht weiter ins Gewicht, dass die kleine Mathilde die einzige wirklich Erwachsene in diesem Trio zu sein scheint. Das hätte der Figurenkonstellation leicht einen altklugen, belehrenden Ton verleihen können. Aber mit der Debütantin Louisa Pili ist die Rolle der Mathilde glänzend besetzt. Das Mädchen mit den großen Augen und dem naiv-optimistischen Tatendrang bleibt in jeder Szene Kind genug, um sowohl einen realistischen wie auch einen verträumten Blick auf das Geschehen zu werfen. Überhaupt lebt der Film vom präzis-zurückgenommenen Spiel seiner Darsteller. Sandrine Bonnaire ist als Hélène eine verhärmte Alleinerziehende am Rande des Burnout. Und Claude Rich gibt den Großvater als verbitterten Alten, hinter dessen bärbeißiger Miene die verloren geglaubte Lebenslust lauert.

Sie habe eine Blockade, sagt Mathilde einmal. Das bezieht sich vordergründig auf ihre Leseschwäche. Blockiert sind jedoch alle in dieser Familie. Wie sie dann im letzten Drittel des Films auf einmal auftauen, wie sich die Mienen entspannen, wie sie zu leuchten beginnen – das ist wunderschön. Gerade weil diese Familie nichts mehr beschönigen muss. Lebenslügen? Ja, die gab es. Na und?

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/der-hals-der-giraffe