Der freie Wille

Die Bestie Mann

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Bereits der quälende Anfang des Films lässt kaum einen Zweifel daran, dass es sich bei der Hauptfigur nicht im einen x-beliebigen Helden oder Sympathieträger handelt, sondern um einen äußerst brutalen und rücksichtslosen Mann. Denn wir werden Zeuge, wie Theo (Jürgen Vogel) einer Frau auflauert, sie von ihrem Fahrrad zerrt und bewusstlos schlägt, um sich anschließend an seinem hilflosen Opfer zu vergehen. Nichts wird erklärt, an der Tat selbst gibt es nichts zu deuten oder zu erklären. Es ist, als würde man als Zuschauer ins kalte Wasser geworfen: Was sollen wir mit einem solchen Scheusal anfangen, der – wie die folgenden Sequenzen zeigen werden – im Mittelpunkt eines Films steht. Und zugleich fühlt man sich beschmutzt durch die obszöne Nähe zu dem verabscheuungswürdigen Verbrechen, dessen hilflose und vielleicht auch willfährige Zeugen wir gerade geworden sind.
Als Theo nach neun Jahren aus dem Maßregelvollzug entlassen wird, gilt er als "geheilt", als resozialisierbar in eine Gesellschaft, die ihn lange Jahre weggeschlossen hat. Theo weiß allerdings darum, dass das, was ihn damals die Tat verüben ließ, immer noch in ihm lauert, ein wildes Tier, das nur mühsam gezähmt und gebändigt wurde und das jederzeit wieder hervorbrechen kann. Also zieht Theo sich zurück, meidet den Kontakt mit Frauen, um nicht in Versuchung geführt zu werden. Als er schließlich Nettie (Sabine Timoteo) kennen lernt und diese sich in ihn verliebt, keimt plötzlich die Hoffnung in ihm auf, dass vielleicht doch noch alles gut werden könnte…

Bereits seit dem Jahr 1999 beschäftigte sich Matthias Glasner (Die Mediocren, Sexy Sadie) gemeinsam mit Jürgen Vogel mit dem Vorhaben, einen Film über einen Vergewaltiger zu drehen. Es ist vor allem die Komplexität des Themas und die Monstrosität der Tat, die Glasner und Vogel immer wieder an den Rand des Abbruchs zu den Vorarbeiten führen. Es folgen ausgedehnte Recherchen und unzählige Drehbuchentwürfe, die samt und sonders immer wieder verworfen werden, schließlich soll das Ganze sogar als Fernsehfilm und nicht wie ursprünglich geplant als Kinofilm realisiert werden. Erst ein Treffen mit dem Produzenten Frank Döhmann überzeugt Glasner schließlich davon, noch einmal einen neuen Ansatz auszuprobieren und dem Thema noch eine Chance zu geben.

Statt der intellektuellen, analysierenden Auseinandersetzung mit der Seele eines Sexualverbrechers wirft Glasner das bisherige Ziel größtmöglicher Objektivität über Bord und versucht nun, persönlicher an das Thema heranzugehen. Ein Vabanque-Spiel, denn immer wieder wurden und werden kritische Stimmen laut, denen so viel Nähe zum Gegenstand der Betrachtung einfach zu viel ist. Selbst zwei Wochen vor Beginn der Dreharbeiten steht die Produktion auf der Kippe, weil man sich nicht sicher ist, ob diese Herangehensweise die richtige ist. Eine Frage, die mit Sicherheit auch das Publikum bewegen wird, eine abschließende Antwort muss jeder Zuschauer für sich selbst finden, zumal der Film trotz mitunter quälend langer Szenen beinahe fragmentarisch wirkt. In diesem Fall sind diese Leerstellen der Erzählung, all das Unausgesprochene, nicht Gesagte und nicht Gezeigte aber kein Mangel, sondern die große Stärke des Films. Denn so wirkt Der freie Wille lange nach, wird trotz seiner formalen Strenge durchlässig für verschiedene Perspektiven und Interpretationsweisen. Glasner verzichtet ausdrücklich auf die in anderen Medien so beliebte Dämonisierung und damit verbundene (Ver-)Bannung des Schrecklichen aus unserer Mitte und erinnert so auch daran, dass die Monstren unter uns und manchmal auch in uns hausen. Und vielleicht ist das die wirklich erschreckende Erkenntnis dieses Films.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/der-freie-wille