Gambit

Das Bauernopfer

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Beim Schach bezeichnet der Ausdruck Gambit eine Spieleröffnung, bei der ein Bauer oder eine andere Figur geopfert wird, um einen Vorteil zu erreichen. Doch natürlich ist Gambit, der Film der Schweizer Regisseurin Sabine Gisiger, kein Film über Tricks und Kniffe beim Schachspiel, sondern die Bestandsaufnahme eines Bauernopfers, das genau 30 Jahre zurückliegt – die Umweltkatastrophe von Seveso, bei der das gefährliche Gift TCDD, das tausendmal toxischer ist als Zyankali, freigesetzt wurde.
Die Folgen des Unglücks waren verheerend, vor allem für die umliegenden Ortschaften Seveso, Meda, Desio und Cesano Maderno. Das Gebiet musste evakuiert und unter großem Aufwand dekontaminiert werden, mehr als 70.000 Tiere starben, zahlreiche Menschen erlitten Hautverätzungen – die so genannte Chlorakne – und die Spätfolgen des Unglücks sind bis heute nicht abzusehen.

Ebenso bemerkenswert wie das Unglück selbst ist das Krisenmanagement, das der Schweizer Chemiemulti Hoffmann-La Roche an den Tag legt. Jegliche Verantwortung wird auf das kleine Tochterunternehmen Icmesa abgewälzt, und mit dem dortigen Sicherheitsbeauftragten Jörg Sambeth wird schnell ein Sündenbock präsentiert – ein Bauernopfer eben, um das Ansehen des Konzerns nicht zu gefährden.

Gambit beschäftigt sich weniger mit der Giftgas-Katastrophe selbst, als mit den Hintergründen des Hoffmann-La Roche-Mitarbeiters Jörg Sambeth und dessen Leben, das infolge der zynischen Entscheidung seines Arbeitgebers eine dramatische Wende erfuhr. Die Wunden sitzen tief, und selbst heute ist man bei Hoffmann-La Roche nicht bereit, über die Ereignisse, die dreißig Jahre zurückliegen, zu sprechen. Sambeth hingegen ist der Dreh- und Angelpunkt des Films, und es ist vor allem seiner Offenheit zu verdanken, dass der Film vieles erhellt, was bislang im Dunkel des Schweigens verborgen blieb. Niemals verschweigt oder leugnet der ehemalige technische Leiter des Werkes seine eigenen Unterlassungen und seine Mitschuld an der Katastrophe, niemals verfällt er in eben jene Strategien, die sein ehemaliger Arbeitgeber benutzte, um das Ansehen des Unternehmens zu retten.

Gambit ist ein Film, der mehr ist als nur die Aufarbeitung eines Skandals. Und das wirklich Schlimme daran ist, dass man nicht das Gefühl hat, dass ein Skandal solchen Ausmaßes heute wesentlich anders gehandhabt würde – im Gegenteil. Die Ignoranz und der grenzenlose Zynismus mancher Großkonzerne scheinen heute eher um ein Vielfaches gesteigert, lediglich die Strategien der Vertuschung und Öffentlichkeitsarbeit sind heute subtiler geworden.

Der Film erhielt auf dem Filmfestival von Locarno den Prix de la Semaine de la Critique sowie den Publikumspreis bei der Duisburger Filmwoche.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/gambit