Wholetrain

Zwischen Szene-Portrait und Jugenddrama

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

In der Sprayerszene bezeichnet ein "Wholetrain" die Königsdisziplin der Graffiti-Kunst – hier muss ein ganzer Zug oder eine komplette S-Bahn inklusive aller Waggons verziert werden. Da solches Treiben natürlich gesetzeswidrig ist, muss ein Wholetrain nachts und in aller Stille geschehen – schließlich wacht das Auge des Gesetzes argwöhnisch über die Sprayer und verfolgt sie mit drakonischen Strafen.
Als in München eine neue Sprayer-Gang namens ATL auftaucht, fühlen sich die Writer von der KSB-Crew (die Abkürzung steht für Keep Steel Bruning) – David (Mike Adler), Achim (Jacob Matschenz), Elyas (Elyas M’Barek) und dem Neuling Tino (Florian Renner) – in ihrer Ehre gepackt und wollen es den Frischlingen unbedingt zeigen. Doch die Jungs haben nicht nur mit den Rookies zu kämpfen, die immer wieder ihre „pieces“ zu übermalen, sondern auch mit diversen anderen Problemen: David zum Beispiel, der gerade erst zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt worden ist – wegen Sachbeschädigung natürlich – muss sich mit einem Bewährungshelfer auseinandersetzen, der den Jungen von der schiefen Bahn holen will. Tino liegt im ständigen Clinch mit seiner Familie und Elyas will Achim, den Neuen in der Gruppe, nicht akzeptieren, so dass auch intern die Zeichen auf Konfrontation stehen. Unter ständiger Anspannung und Angst, dass die Polizei vor der Tür stehen könnten, macht sich die Gang daran, den großen Traum vom Wholetrain in die Tat umzusetzen, bis schließlich eine Katastrophe passiert, die die KSB-Crew auseinanderreißt…

Obwohl Wholetrain anders als Till Hastreiters HipHop Film Status Yo! nicht mit Amateuren sondern mit echten Schauspielern arbeitete, stellte sich bei der Filmcrew schnell eine Ahnung davon ein, was es heißt, ein Sprayer zu sein. Denn Teile des Films mussten in Warschau gedreht werden, da sich in Deutschland keine Stadt bereit fand, die Sprayer-Szene zu unterstützen, so dass schließlich nur der Weg nach Polen übrig blieb, wie Florian Gaag zu berichten weiß: „Die Bundesbahn wollte auf keinen Fall mit uns kooperieren. Aus Angst, der Film könne mögliche Nachahmer animieren, drohten die Verantwortlichen gar damit, sämtliche europäischen Verkehrsbetriebe über unser Vorhaben zu informieren und den Film so zu blockieren.“ Gaag beobachtet genau, schildert die Sorgen und Nöte der Jugendlichen, ohne dabei in Sozialkitsch zu verfallen. Er verteidigt die (Straf-)Taten der Writer ebenso wenig wie er sie heroisiert – wer etwas anderes darin sieht, ist selbst schuld. Rasant geschnitten und weitgehend mit realistisch wirkender Handkamera gefilmt, gibt der Film einen guten Einblick in die Szene der Sprayer und Writer. Irgendwie vermisst man aber ein wenig die Unmittelbarkeit und Frische eines Films wie Status Yo!, der das dichtere und authentischere Szene-Portrait war – mag sein, dass dies an der relativ herkömmlichen Dramaturgie des Films liegt, die dem Film einiges von seinem Potenzial raubt. Ein wenig mehr Innovation hätte an dieser Stelle mit Sicherheit gut getan.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/wholetrain